DIALOG-Gespräch mit Marek Prawda

Polen und Deutschland sind dafür prädestiniert, neue Teilungen auf dem Kontinent zu verhindern

DIALOG-Gespräch mit Polens Botschafter in Deutschland, Marek Prawda, über das 20-jährige Jubiläum der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags und die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Ländern

Basil Kerski: Herr Botschafter, als Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki am 17. Juni 1991 in Bonn den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag unterzeichneten, waren Sie noch kein Diplomat. Sie waren damals als Soziologe an der Polnischen Akademie der Wissenschaften tätig, interessierten sich für die bilateralen Beziehungen beider Länder und arbeiteten in den gerade entstehenden Polnisch-Deutschen Gesellschaften aktiv mit. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit? 

Marek Prawda: Der Vertrag schloss die von Misstrauen geprägte Nachkriegsphase ab und war ein Abschied von der Epoche der demütigenden Teilung Europas in ein Europa der Besseren und der Schlechteren sowie vom Missbrauch der Feindschaft in den Beziehungen zwischen den Nationen. In diesem Sinne kehrte der Vertrag die Vektoren um: Die Lage Polens zwischen Deutschland und Russland, dieses historische und geopolitische Unglück, stellte sich auf einmal als ein wichtiger Vorteil heraus. Was für ein schreckliches Erlebnis muss das für die Menschen in beiden Ländern gewesen sein, die über Jahrzehnte ihren "Lieblingsfeind" gehabt hatten, um den herum sie die Welt ordneten und deuteten! Aber die entschiedene Mehrheit in beiden Gesellschaften nahm die Unterzeichnung des Vertrags mit Erleichterung und Hoffnung auf. In gewissem Sinne war das Thema Deutschland auch deshalb besonders wichtig, weil die Veränderung Polens in hohem Maße gerade durch den Wandel in seinem Verhältnis zum Nachbarn und in der Wahrnehmung der Deutschen erfolgte. Die deutsch-polnischen Beziehungen betrachteten wir als einen Testfall für die polnische Außenpolitik und für unsere Fähigkeit, zu einem sprichwörtlich schwierigen Partner gute Beziehungen aufzubauen. Wir unterlagen sogar der Illusion, die Geschichte spiele sich zwischen Polen und Deutschland ab und wir täten etwas enorm Wichtiges für Europa. 

Das war der politische Hintergrund, zu dem auch die Initiativen "von unten" gehörten. In Warschau wurde eine neue Polnisch-Deutsche Gesellschaft gegründet, in deren Vorstand ich als Sekretär tätig war. Ich erinnere mich an unsere leidenschaftliche Überzeugung, diese Gesellschaft würde zum besseren Verständnis beider Völker in der neuen Wirklichkeit beitragen. Ich war von meinen "Großtaten" sehr beeindruckt, die darin bestanden, Busse für die Fahrten nach Berlin zu organisieren, wo im Mai 1992 der erste Kongress der Deutsch-Polnischen und Polnisch-Deutschen Gesellschaften stattfand. Ich schickte die Teilnehmer zu Christian Schröter, dem Vorsitzenden der Berliner Gesellschaft, der sie vor Ort empfing. Damals entwickelte sich eine zivilgesellschaftliche deutsch-polnische Infrastruktur - auch wenn wir nicht bei null anfangen mussten, denn es ist bekannt, welch wichtige Rolle die bereits in den 1970er Jahren entstandenen Deutsch-Polnischen Gesellschaften spielten, vor allem die im nördlichen Teil Deutschlands. Heute gibt es viele Gesellschaften, Städtepartnerschaften und verschiedene Kontakte in allen möglichen Bereichen, die vermutlich europaweit beispiellos sind. Wir wissen diesen Umstand besonders jetzt zu schätzen, da es zu rasanten Veränderungen in den Nachbarländern Europas kommt. Und wir wissen heutzutage auch, wie wichtig die natürliche Unterstützung der Bürger bei politischen Prozessen ist. 

Basil Kerski: Eine Tatsache wird häufig außer Acht gelassen: Zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung war die Lage in Mitteleuropa noch nicht stabil - die Sowjetunion existierte weiterhin, und einige Wochen später wurden wir Zeugen eines Putsches in Moskau. Der Vertrag war ein Symbol für eine gewisse Stabilisierung, ein Werkzeug für den Aufbau von solideren Fundamenten als denen, die gerade in die Brüche gingen. Ist der Vertrag heute nur noch ein historisches Dokument? 

Marek Prawda: Er ist insofern ein historisches Dokument, als dass er von Zielen spricht, die bereits Wirklichkeit geworden sind. Aber gleichzeitig ist er auch lebendig, denn er bildet weiterhin die Grundlage für die Formulierung der Erwartungen - dabei erwies er sich als besonders "dehnbar" und seiner Zeit voraus. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass der Vertrag ein gewisses Niveau der Zusammenarbeit dekretierte, das tatsächlich gehalten wurde und dem Polen sehr viel verdankt. Es gab niemals Zweifel an der deutschen Unterstützung für die Bestrebungen Polens, Teil der westlichen Strukturen zu werden, der Vertrag präzisierte das auch in Bezug auf die Sicherheitsfrage. Die polnischen Politiker aus dem Lager der Solidarnosc hatten wiederum schon früher vom Recht Deutschlands auf die Wiedervereinigung gesprochen. Dies ergab sich aus einer einfachen Überlegung: Ohne ein vereinigtes Deutschland konnte es kein unabhängiges Polen geben. Es kam eine Zeit, in der - im Unterschied zu den Erfahrungen aus der Vergangenheit - gute Nachrichten für Polen auch gut für Deutschland sein konnten und umgekehrt. Beide Länder wurden Teil ein und derselben Welt sowie einer Wertegemeinschaft. Und wenn wir uns streiten, dann ist es ein Familienstreit und kein Überlebenskampf, bei dem der Sieg eines Volkes zwangsläufig die Niederlage seines Nachbarn bedeutet. Der Vertrag ist ein Symbol für Stabilisierung, denn er hat die Festigung der Stellung Polens auf der politischen Karte Europas eingeleitet. 

Es gibt selbstverständlich auch Artikel in dem Vertrag, deren Umsetzung nicht ganz gelungen ist. Mit dem Grad der Umsetzung der Artikel über die polnische Gruppe in Deutschland sind wir beispielsweise nicht zufrieden. Bis zu der vertraglich vereinbarten gleichen finanziellen Förderung beider Gruppen - der Polonia in Deutschland und der deutschen Minderheit in Polen - ist es noch ein weiter Weg. Es liegt uns sehr viel an der Erweiterung des Polnischangebots an Schulen, Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen. Und eben deshalb sehen wir uns jetzt, kurz vor dem Jahrestag des Nachbarschaftsvertrags, genauer an, wie die Minderheitenartikel umgesetzt worden sind, und führen intensive Gespräche unter Beteiligung beider Regierungen und beider betroffener Gruppen. Ich hoffe, wir werden diese Effektivitätsprüfung der im Vertrag festgehaltenen Verpflichtungen gut überstehen. 

Basil Kerski: Heute wissen wir, dass auch die Entschädigungsfragen mit dem Vertrag nicht hinreichend geregelt wurden, sodass uns in den vergangenen Jahren unnötige Diskussionen nicht erspart blieben. 

Marek Prawda: Die dem Vertrag beigefügten Listen stellten lediglich fest, dass er sich mit den Restitutionsfragen "nicht befasse". Nichtsdestotrotz gab es Vereinbarungen oder stillschweigendes Übereinkommen in grundlegenden Punkten: Bereits damals war es klar, dass jegliche Ansprüche seitens Deutschlands in Bezug auf die von Polen infolge des Potsdamer Abkommens übernommenen ehemaligen deutschen Ostgebiete nicht infrage kommen. Dies wurde viele Jahre später in einer bekannten Erklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt. Gleichzeitig wurde begleitend zum Vertrag festgelegt, dass Deutschland den in Polen lebenden Opfern des Nazi-Regimes Hilfe zukommen lassen wird. Infolge dessen wurden für sie sechs Milliarden Zloty gesammelt. Einige wichtige Fragen bleiben noch offen, wie zum Beispiel die Rückgabe von Kulturgütern. Der Vertrag verpflichtete lediglich zur Aufnahme von diesbezüglichen Verhandlungen, die - wie wir wissen - nach wie vor im Gange sind. Es stellt sich die Frage, ob es tatsächlich nötig war, über zehn Jahre auf einen offiziellen Abschluss der Restitutionsfragen zu warten. Ich glaube nicht. Manche Diskussionen haben in beiden Ländern zu viele Schäden angerichtet. 

Basil Kerski: Seit dem vergangenen Jahr nehmen Bevollmächtigte für deutsch-polnische Beziehungen beider Regierungen eine Überprüfung des Vertrags vor. Was ist ihr Ziel? Was können wir erwarten? 

Marek Prawda: Wir haben beschlossen, uns die deutsch-französischen Beziehungen zum Vorbild zu nehmen. Im Jahre 2003, vierzig Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags, wurde Bilanz gezogen. Das Gleiche streben wir an. Das Ergebnis soll eine gemeinsame Erklärung sein, in der das Erreichte beurteilt und Ziele für die Zukunft vorgestellt werden. Der Erklärung möchten wir eine Liste mit konkreten Vorhaben beifügen, die unsere Bestrebungen zum Ausdruck bringen. Überhaupt möchten wir gern, dass diese Jubiläumsdokumente die Frage beantworten, was Polen und Deutschland gemeinsam in Europa bewirken können, also unser Interesse auf die Zusammenarbeit in einem erweiterten, internationalen Kontext lenken. Der Grad der Zusammenarbeit zweier Länder darf nicht nur daran gemessen werden, wie sie ihre bilateralen Beziehungen aufbauen, sondern auch daran, was sie zum europäischen Gemeinwohl beitragen. Am 21. Juni soll in Warschau eine gemeinsame Sitzung der polnischen und der deutschen Regierung stattfinden, was für unsere Beziehungen einmalig ist. Eine vergleichbare Regelung ist bisher nur einmal von Deutschen und Franzosen verwendet worden. Unsere Wirtschaftsminister wollen am Vortag der Sitzung eine gemeinsame "Ressort-Bilanz" ziehen, aber auch an einer Konferenz mit deutschen und polnischen Unternehmern teilnehmen. Und genau am Jahrestag der Vertragsunterzeichnung, am 17. Juni 2011, feiern die Schulen in beiden Ländern einen Deutsch-Polnischen Tag. Geplant sind ebenfalls Treffen beider Staatspräsidenten und der Präsidien beider Parlamente. 

Basil Kerski: Sie die zwei Jahrzehnte der neuen deutsch-polnischen Beziehungen betrachten: Welche verschiedenen Phasen gab es in ihrer Entwicklung? Sehen Sie darin Augenblicke des positiven Umbruchs, oder auch der schweren Krisen? 

Marek Prawda: Die erste Phase um die Unterzeichnung des Vertrags herum war die "romantische": Unsere Beziehungen wurden neu aufgebaut, Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit geschaffen, Institutionen gegründet und eine neue Sprache entwickelt. Die zweite Phase kam meiner Ansicht nach in den späten 1990er Jahren, nachdem wir die Defizite in unseren Beziehungen klarer erkannt hatten - als ob die Versöhnungsformel sich erschöpft hätte. Es tauchten Missverständnisse auf, die aus der Ungleichzeitigkeit unserer Debatten über die Geschichte, über Europa und die Identität resultierten. Zum Beispiel fing die Geschichtsdebatte in Deutschland zu einem Zeitpunkt wieder an, als Polen sich auf seine EU-Mitgliedschaft vorbereitete, die polnische Debatte also völlig auf die Zukunft ausgerichtet war. Doch wir waren gezwungen, uns mit der Ver­gan­gen­heit und den Argumenten der Kreise in Deutschland auseinanderzusetzen, die ihre Kritik an Polen und seinen Bemühungen um die EU-Mitgliedschaft lauter als zuvor äußerten. Nach der Zeit schwieriger Auseinandersetzungen über die Geschichte im Zusammenhang mit dem Klimawandel der öffentlichen Debatten in beiden Ländern kam die Phase einer "pragmatischen Abkühlung", die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und Interessen ergab. Die Ostsee-Pipeline und die divergenten Standpunkte zum Irakkrieg sind Beispiele für reale Probleme, über die jahrelang emotional diskutiert wurde. 

Am wichtigsten ist jedoch, dass wir vor einigen Jahren in die Phase einer "reifen Partnerschaft" eingetreten sind. Es besteht die Chance, dass sich unsere Beziehungen nicht mehr nur auf "historische Prothesen" stützen, keine bestimmten Rollen - wie die eines Anwalts oder eines Mandanten - erzwingen und somit auch nicht den Vorwurf der Undankbarkeit auf der einen und des Paternalismus auf der anderen Seite aufkommen lassen. Vielmehr sollten sie überwiegend aus der realen Teilnahme beider Länder an den globalen Prozessen sowie einer strategischen Zusammenarbeit innerhalb der EU hervorgehen. Die Natürlichkeit dieser Kontakte resultiert daraus, dass sie endlich mehr Züge einer Partnerschaft aufweisen, also Möglichkeiten gegenseitiger Unterstützung: Der eine kann dem anderen etwas geben und etwas dafür bekommen, und zwar nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich. Die Geschichte wird immer wichtig bleiben, aber "zwischen uns" ist auch ein neuer Raum entstanden, den wir gestalten können. Dieses neue "Zwischen uns" sollte heute im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen und zu Debatten anregen. 

Basil Kerski: Kommen wir noch auf die erste, romantische Phase der deutsch-polnischen Beziehungen zurück. Für viele Experten war es damals klar, dass eine ausschließliche Fokussierung auf die deutsch-polnische Versöhnung - wenn auch nachvollziehbar - gewisse Risiken mit sich bringt. 

Marek Prawda: An die Befürchtungen der Experten kann ich mich gut erinnern, denn viele von ihnen hatten verstanden, dass Versöhnung kein Selbstzweck sein darf. Die Versöhnung ist eher eine Voraussetzung dafür, dass man mit Streitfragen zivilisiert umgehen kann und die historische Wahrheit gemeinsam erträgt, ohne dass dies zu Konfrontationen führt. Aber die Versöhnungsformel wurde zu einer bequemen Ausrede für einige Politiker, die keine Lust hatten, etwas zu tun - es reichte aus, zu verkünden, man sei "versöhnt" mit den Polen (oder Deutschen), um seine Ruhe zu haben. Diese Politiker wunderten sich später sehr, dass immer noch irgendjemand irgendetwas von ihnen erwartete. Die "Versöhnungsmaske" aufzusetzen, war am einfachsten, denn sie ersetzte echtes Interesse und befreite von der ermüdenden Suche nach gemeinsamen politischen Themen. Eine Versöhnung, die nicht mit dem Versuch einhergeht, Perspektiven zu wechseln, schließt uns im Paradigma der Vergangenheit ein und wird zu einer psychologischen Fortsetzung des Konflikts. 

Ich nehme an, die polnische Enttäuschung rührt zum Teil daher, dass wir auf der deutschen Seite kein tiefer gehendes Interesse an unserem Land erkennen konnten. Dank der so verstandenen Versöhnungsformel erhielten die Deutschen nach der Wiedervereinigung die Chance auf einen Fortschritt in den Beziehungen zu Polen, aber ohne die Notwendigkeit, ihr Verhältnis zum polnischen Nachbarn tiefer zu überdenken, ohne sich mit den Bestandteilen des "Giftes" zu beschäftigen, das unseren Beziehungen seit 200 Jahren fleißig beigemischt wurde. Für die Deutschen war es schlicht einfacher zu sagen, sie seien europäisch, offen und obendrein gerade im Begriff, eine Mission der Versöhnung mit den Polen durchzuführen. Dabei erlebte Polen in dieser Zeit eine für das Land enorm wichtige Debatte über die Vergangenheit und die Instrumentalisierung seines deutschen Feindbildes. Die Polen bemühten sich, das zu verwerfen, was ihnen im kommunistischen Polen eingetrichtert worden war. Eine neue Wahrnehmung Deutschlands und der Deutschen wurde im Grunde zum Erkennungszeichen für das neue, geistig unabhängige Polen - ein Polen, das sowohl den Willen als auch die Kraft hat, sich auch mit den dunklen und bisher verborgenen Kapiteln seiner Geschichte auseinanderzusetzen. 

Doch eine vergleichbare Debatte fand auf der deutschen Seite nicht statt. Unsere Nachbarn waren der Meinung, sie hätten ihre Vergangenheit gleich nach dem Krieg hinreichend aufgearbeitet. Man vergaß dabei, dass es nicht Polen gewesen war, das damals im Mittelpunkt dieser Aufarbeitung stand. Ganz im Gegenteil - in der Nachkriegszeit erschien Polen beinahe als "Nutznießer" des Krieges, als "Dieb" der ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches, als ein gering geschätzter Nachbar, an dem man die deutschen Frustrationen nach 1945 abreagieren konnte. Dass Polen ein Teil des feindlichen, kommunistischen Systems war, machte die Konservierung antipolnischer Stimmungen und historischer Vorurteile noch leichter. 

Nach der politischen Wende in Deutschland kehrten die Vergangenheitsthemen zurück. Die scheidende Generation begann, auf natürliche Art und Weise über ihre Nachkriegserfahrungen lauter zu sprechen. Da sie aber über die kritische und schmerzhafte Abrechnung Polens mit seiner eigenen Geschichte wenig wusste, forderte sie beispielsweise, "die Tabuisierung des Themas Vertreibungen zu brechen" - als ob in Polen weiterhin die verlogene kommunistische Geschichtspolitik betrieben würde. Gleichzeitig stellte sich rasch heraus, dass diejenigen, die uns "die wahre Geschichte" zu lernen befahlen, zum Beispiel vom Warschauer Aufstand - immerhin die größte Erhebung während des Zweiten Weltkrieges - überhaupt noch nichts gehört hatten und ihn meistens mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselten. Und wenn wir vorsichtig und diskret versuchten, das richtigzustellen, legte man uns auf der Stelle "Geschichtsparanoia" und ein obsessives Verharren in der Vergangenheit zur Last. 

Jede deutsche Rückkehr in die Vergangenheit enthüllt auch die andere Seite der Medaille. Die Polen wundern sich, dass den Deutschen stets irgendwelche "Details" entfallen: Mal der Warschauer Aufstand, mal die Tatsache, dass während des Zweiten Weltkrieges nicht nur Lidice oder Oradour-sur-Glane vernichtet wurden, sondern auch mehr als 750 polnische Dörfer. In dieser Situation liegt es auf der Hand, dass sich die Polen gezwungen fühlen, daran zu erinnern. Und je mehr Anlässe die Deutschen für solche "Erinnerungen" geben, desto stärker entwickelt sich in Polen die Neigung, unser Schicksal als etwas Außergewöhnliches, mit nichts und niemandem Vergleichbares hinzustellen. Und so schließt sich der Kreis. 

Es gibt noch eine unglückliche Folge dieser Spirale von gegenseitigen Vorwürfen. Es gibt in Deutschland eine allgemeine Tendenz, Polen als ein Land zu betrachten, in dem "alles anders funktioniert als in Europa". Der deutsche Historiker Hans Henning Hahn sagt, wir trügen selbst dazu bei, indem wir die absolute Außergewöhnlichkeit unserer Geschichte unterstreichen und davon ausgehen, dass die Deutschen uns sowieso nicht verstehen würden. Damit hätten wir unwillentlich das Bild von der polnischen Exotik gefestigt, die zwar hin und wieder sogar Sympathie wecken kann, aber das ist eine "Sympathie für den Fremden, den kulturell Anderen". An dieser Stelle muss man unbedingt hinzufügen, dass die fehlende Gewohnheit auf der deutschen Seite, die Vergangenheit auch einmal durch die "polnische Brille" zu betrachten, zu dieser polnischen "Selbst-Exotisierung" erheblich beigetragen hat. All das machte es uns schwer, die Barriere der Fremdheit zu durchbrechen, die ein lästiges Hindernis auf dem Weg zur Normalisierung unserer Beziehungen war. Der Fremde ist immer ein wenig "mythisch" und "unbegreiflich". 

Basil Kerski: Aber vielleicht vergessen wir dabei, dass beide Länder in den 1990er Jahren einen viel schwierigeren Reifeprozess durchmachten, als es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus angenommen wurde. Deutschland, wie es sich Ende der 1990er Jahre herausstellte, war keine Fortsetzung der alten Bonner Republik, sondern ein neuer Staat, der einen dramatischen Emanzipationsprozess in der Außenpolitik durchlebte. Das Land verabschiedete sich von der Sonderrolle einer Großmacht, die für die Lösung internationaler Konflikte bezahlt, ohne sich in diese Konflikte direkt zu engagieren. Die deutsche Nation stand vor der Herausforderung, ihre Identität auf einem neuen Fundament aufzubauen. Auch Polen lernte, mit seiner Souveränität umzugehen, und bewies dabei mehr als einmal seine Selbstständigkeit. Ich glaube, die ersten deutsch-polnischen Probleme nach 1989 resultierten daraus, dass beide Länder auf der Suche nach ihrem eigenen Weg, ihrer Identität und ihrem historischen Narrativ waren. War der deutsch-polnische Frontalzusammenstoß, der sich Ende der 1990er Jahre abzeichnete, vielleicht doch ein ehrlicher und unvermeidlicher Prozess? 

Marek Prawda: Dem stimme ich vollkommen zu - im Wesentlichen war es ein objektiver Prozess. Polen und Deutschland "erfanden sich neu", und in dieser Entwicklungsphase hatten sie recht nachvollziehbare Verständigungsprobleme. Das war Teil eines größeren Problems im vereinigten Deutschland, das die Beziehungen zu seinen europäischen Partnern neu ordnen musste. Die Deutschen, die sich um die Integration unstreitig verdient gemacht haben, sprachen sehr lange - auch gegenüber der eigenen Gesellschaft - von einer Mission, von Selbstlosigkeit und historischen Verpflichtungen. Aber selbst wenn Berlin die eigenen Interessen im Kontext der NATO und der EU definierte, vergaß es doch nie, was für Deutschland wichtig war. Wäre die gemeinsame Währung nicht eingeführt worden, hätte die Geldentwertung in Europa das für die deutsche Wirtschaft so wichtige Exportmodell zerstört. Auch an der EU-Erweiterung hat Deutschland eher nicht verloren. Hier gibt es eine offenkundige Analogie zur Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen. Genauso wie wir heute nach aktuelleren Motivationen suchen, so erwarten auch die anderen Nachbarn Deutschlands, dass seine "europäische Verantwortung" nicht nur mit der Geschichte begründet wird, sondern dem objektiven Potenzial des Landes und den Vorteilen, die es aus der Integration zieht. Je mehr die deutsche Gesellschaft darüber weiß, desto leichter wird es ihr fallen, die Bemühungen Berlins um die Rettung des europäischen Projekts zu akzeptieren. Und das ist für uns alle wichtig. 

Basil Kerski: Ich habe den Eindruck, dass sich hinter der Sprache der Versöhnung in den 1990er Jahren kein Kitsch verbarg - wie Klaus Bachmann es damals nannte - sondern eine Schutzbarriere vor dem Anderen, die eine Vertiefung der deutsch-polnischen Debatten verhindern und den Nachbarn auf Distanz halten sollte … 

Marek Prawda: In vollem Bewusstsein dieser Fallen hatte ich selbst 1991 in der Warschauer Monatszeitschrift "Res Publica" von "Versöhnungskitsch" geschrieben. Das war kein Kommentar zu dem, was gerade geschah, sondern ein Ausdruck der Sorge darüber, was passiert, wenn wir nicht rechtzeitig die Perspektive des Nachbarn in das Gespräch über unsere neue Identität mit einbeziehen. Eine der wichtigsten Lektionen, die Polen nach dem politischen Umbruch gelernt hatte, war die Einsicht, dass wir, wenn wir etwas Neues über uns erfahren wollen, uns mit den Augen der Nachbarn - auch der im Osten, die wir damals neu entdeckten - betrachten müssen, denn sonst wird eine Identitätsdebatte autistisch. Das heißt - um Ihre Formulierung zu verwenden -, es ging eben um den Mut, die Schutzbarriere vor dem Anderen zu beseitigen. 

Basil Kerski: Bald danach sollten viel mehr Kommunikationsstörungen dieser Art kommen. Der Irakkrieg löste eine Krise in den deutsch-polnischen Beziehungen aus, und zum gleichen Zeitpunkt gab es Auseinandersetzungen um die Ostsee-Pipeline und den Vertrag von Lissabon. 2004 fasste Janusz Reiter in einem Interview für DIALOG (Nr. 65) die deutsch-polnischen Beziehungen wie folgt zusammen: "Die Deutschen verstehen die Polen nicht mehr, und die Polen vertrauen den Deutschen nicht mehr." Etwas in diesen Beziehungen ging damals in die Brüche. Wie beurteilen Sie diese Krise? Ist es gelungen, das Vertrauen wieder aufzubauen? 

Marek Prawda: Ich denke, es war der Irakkrieg, bei dem sich die deutsch-polnischen Differenzen am stärksten offenbarten. Deutschland bekam seine erste Chance, sich von den USA zu emanzipieren, während es für Polen die erste Chance war, als ein großes Land und neues NATO-Mitglied seine Loyalität und Nützlichkeit zu beweisen. Das war ein weiteres Beispiel für unsere "Nicht-Synchronizität". Aber das war noch nicht alles: 2003-2004 wurde der Versuch unternommen, mit einer Allianz Paris-Berlin-Moskau eine Alternative zu den transatlantischen Beziehungen zu schaffen. Dabei schienen die wichtigsten europäischen Länder zu jener Zeit keinen großen Wert auf die Einhaltung von universellen Regeln in der Wirtschaft und den demokratischen Prinzipien in Russland zu legen. In Deutschland war sogar das Konzept der Äquidistanz zu Washington und Moskau populär. 

Basil Kerski: In Westeuropa wurde über Emanzipation gesprochen. Jacques Derrida und Jürgen Habermas gehörten zu den deutschen und französischen Intellektuellen, die im Widerstand gegen die USA einen Neubeginn für die europäische Gemeinschaft sahen. 

Marek Prawda: Derrida und Habermas waren der Meinung, die Massenproteste gegen den Irakkrieg bildeten einen Gründungsakt für das neue Europa. Wir vertraten wiederum den Standpunkt, der Gründungsakt für das neue, vereinigte Europa sei der politische Umbruch von 1989 gewesen. Das war der Meinungsunterschied, der in den deutsch-polnischen Beziehungen eine gravierende Rolle spielte. Und ich glaube, das ist der Fragenkomplex, der am besten zu Janusz Reiters Diagnose passt. 

Sie fragen aber, inwieweit diese These heute noch aktuell ist. Ich denke, es spricht einiges dafür, dass wir aus der Vergangenheit Schlüsse gezogen haben. Die Entwicklung unserer - polnischen, deutschen und europäischen - Beziehungen zu Russland und die Veränderungen in den europäisch-amerikanischen Beziehungen können hierfür als Beispiel dienen. Als wir den westlichen Strukturen beitraten, dachten wir, wir würden einer homogenen Struktur des Westens beitreten, dabei stellte sich heraus, dass das nicht unbedingt stimmte und wir uns zwischen Brüssel und Washington entscheiden mussten. Das wollte uns nicht in den Kopf. Wir hielten die EU - ähnlich wie der Berliner Historiker Heinrich August Winkler - für eine europäisch-amerikanische Koproduktion, eine Wertegemeinschaft, die auf einem gemeinsamen Fundament basierte. Es erschien uns unmöglich und ungeheuer gefährlich, den Sinn der transatlantischen Beziehungen in Zweifel zu ziehen. Meiner Überzeugung nach denkt Europa heute anders, und es gibt keine strenge Spaltung mehr in ein "altes" und ein "neues" Europa. 

Außerdem hat Polen sein aufrichtiges Interesse an guten Beziehungen zu Russland wohl bewiesen. In dem Augenblick, in dem der Westen sich um eine positive Einbindung Russlands in den europäischen Kreislauf bemüht, stellt sich Polen als ein Partner heraus, der dabei effektiv behilflich sein kann. Russland wiederum scheint immer besser zu begreifen, dass sein Weg der Annäherung an Europa kürzer sein wird, wenn er über Polen führt und nicht, wenn er Polen umgeht. Und trotz aller Probleme, die hin und wieder noch auftreten, ist das für mich ein Beleg für wieder aufgebautes Vertrauen. Heute möchte man die deutsch-polnisch-russische Dreistimmigkeit in den europäischen Debatten nicht mehr missen. Die Außenminister Polens, Deutschlands und Frankreichs baten letztes Jahr ihren russischen Amtskollegen zu einem Treffen des Weimarer Dreiecks hinzu. Auch ein Weimarer Gipfel mit Präsident Medwedew ist angekündigt worden. 

Basil Kerski: Zu Beginn des neuen Jahrhunderts, nach dem Irakkrieg, wurden Polen und Deutsche mit zwei gegensätzlichen Prozessen konfrontiert. Auf der einen Seite erreicht der deutsch-polnische Expresszug, der im Juni 1991 losgefahren ist, die Stationen, die er erreichen sollte: Dank der großen Unterstützung seitens Deutschlands trat Polen der NATO und der EU bei; anschließend entfielen 2007 die Grenzkontrollen, wobei sich beide Seiten einander gegenüber loyal verhielten. Andererseits gibt es in beiden Ländern seit Beginn des neuen Jahrhunderts öffentliche Debatten, in denen Differenzen und Risse im deutsch-polnischen Verhältnis besonders hervorgehoben und schwierige Fragen gestellt werden. In Polen kam die Frage auf, inwiefern von einer deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft die Rede sein kann - manche Publizisten haben den Begriff hinterfragt und tun es immer noch. Wie stehen Sie zu dieser Debatte? Warum wurde der Begriff infrage gestellt? Vor einem Jahr sagte Dieter Bingen in einem Interview für DIALOG (Nr. 91), eine Werte- und Interessengemeinschaft bedeute nicht das Nichtvorhandensein von Interessenunterschieden, denn dieser Begriff stehe ja für die "hohe politische Kultur" im Umgang mit Differenzen. Wir bilden eine Gemeinschaft, um diese Differenzen beim Namen zu nennen und nach entsprechenden Lösungswegen zu suchen, die weder unsere bilateralen Beziehungen noch Europa schwächen würden. Mir scheint, die Argumente Dieter Bingens waren in den Reflexionen der polnischen Kritiker dieses Begriffs nicht vertreten. 

Marek Prawda: Ich glaube, wir haben verstanden, dass eine Interessengemeinschaft nicht ein für alle Mal gegeben ist, sondern eine bewegliche Struktur darstellt, die ständige Arbeit und Aufmerksamkeit erfordert. Sie muss ständig neu definiert und mit Inhalten gefüllt werden. Aber auf der allgemeinen Ebene existiert sie, immerhin sind wir beide Teil derselben europäischen Struktur. Was nicht ausschließt, dass in der praktischen Zusammenarbeit innerhalb der EU diverse Differenzen auftreten. Ein Nettozahler kann schwerlich immer dieselben Ansichten und Interessen haben wie ein Nettoempfänger. Die Interessengemeinschaft äußert sich darin, dass auch die schlimmsten Auseinandersetzungen das Fundament der Zusammenarbeit nicht ins Wanken bringen können. Die Zweifel dürfen erst dann aufkommen, wenn ein Partner zusammen mit einem Drittland eine Entscheidung trifft, die unseren Interessen schadet, oder sie mit uns nicht ausreichend bespricht. 

Zweifel anderer Art tauchten in Phasen einer Klimaverschlechterung in unseren Beziehungen auf, als gegenseitige Vorurteile wiederauflebten. In Deutschland gab es schon immer Kreise, die Polen nicht gewogen waren, dessen Willen zu einer dauerhaften Annäherung anzweifelten und Warschau beschuldigten, es wäre nur auf unmittelbare Vorteile bedacht. Und wenn in Polen irgendwelche Stimmen zu vernehmen waren, die eine solche Haltung auch nur im Geringsten bestätigten, triumphierten die besagten Kreise, denn sie konnten endlich ihre Meinung sagen und wurden von einem Teil der Öffentlichkeit auch wohlwollend angehört. Eine der wichtigsten deutschen Zeitungen veröffentlichte zig Leserbriefe von Menschen, denen das Klima der Verständigung allem Anschein nach nicht zusagte. Mit deutlicher Erleichterung ließen sie ihrer Fantasie über den schlechten Charakter der Polen, ihre historische Schuld und Unfähigkeit zum Kompromiss freien Lauf. Der polnischen Seite fiel es wiederum schwer zu begreifen, dass sich in Deutschland Vorurteile und Ressentiments "von vorgestern" so leicht wiederbeleben ließen - als hätte es die Jahrzehnte eines breiten gesellschaftlichen Dialogs, den bahnbrechenden Brief der Bischöfe von 1965 oder - ein Paradebeispiel für einen erfolgreichen Kompromiss - den polnischen Runden Tisch nie gegeben, der den Weg für den friedlichen Systemwechsel in der ganzen Region geebnet hatte. Sollte unsere Annäherung am Ende so seicht und zerbrechlich gewesen sein? "Wo ist denn diese Werte- und Interessengemeinschaft?", fragte man in Polen. Außerdem fehlte die Symmetrie in unseren gegenseitigen Erwartungen. Meine persönliche Beobachtung war die, dass wenn es zu irgendwelchen Spannungen kam, ich genau wusste, welche Schritte unsere deutschen Partner von uns erwarteten, damit die Situation sich besserte. Dagegen fiel es mir wesentlich schwerer zu erfahren, was sie von sich selber erwarteten. 

In meiner Antwort habe ich mich auf Beispiele konzentriert, in denen der Begriff der Interessengemeinschaft angefochten wurde. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Denn es lässt sich problemlos nachweisen, dass das Geflecht der deutsch-polnischen Zivilgesellschaft die Prüfung der Zeit bestanden hat. Vor Jahren gingen politische Turbulenzen mit geradezu demonstrativen Gesten der Weiterentwicklung und Belebung der Zusammenarbeit zwischen einzelnen lokalen Gemeinschaften oder Berufsgruppen einher. Ich möchte dabei auch an die mediale Gestaltung und an die Debatte um den 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs erinnern. Nach allgemeiner Meinung der Historiker war es schwer, wesentliche Unterschiede zwischen Deutschland und Polen in der Kommentierung und Interpretation jener Zeit zu finden. Noch nie war das so deutlich wie 2009. Da wir Teil derselben Wertegemeinschaft sind, ist das eben völlig natürlich. Wahrscheinlich ist diese Gemeinschaft doch stärker, als sie uns auf den ersten Blick erscheint. 

Basil Kerski: In den letzten Jahren veränderte sich die Wahrnehmung des Nachbarn sowohl in beiden Gesellschaften als auch bei den politischen Eliten beider Länder. 2004, als die EU nach Osten erweitert wurde, war die Mehrheit der Deutschen laut Meinungsumfragen gegen den EU-Beitritt Polens. Die deutschen politischen Eliten unterstützten daher die polnischen Ambitionen "gegen den Strom". 

Marek Prawda: Ehrgeizige Projekte wurden häufig unter Schmerzen und wider die öffentliche Meinung geboren. Je hochfliegender sie waren, desto mehr bedurften sie eines starken Leaders. Viele Projekte wären ohne die Entschlossenheit der politischen Eliten oder irgendeines Visionärs nie zustande gekommen. Die Euro-Einführung, die Ostpolitik oder eben die EU-Erweiterung gehören zu den Projekten, die von Natur aus riskant waren. Menschen mögen keine Veränderungen, somit suchen sie nach jeder beliebigen Ausrede, um sie zu verhindern. Aber politische Klugheit besteht darin, die Wirklichkeit besser als die Katastrophenszenarien werden zu lassen. 

Hat sich heute in der Wahrnehmung des polnischen Nachbarn in Deutschland etwas geändert? Ich finde, die Daten von vor 20 Jahren veranschaulichen die Macht der Stereotype, dagegen sieht die Wirklichkeit heute viel besser aus. Die Länder, die 2004 der EU beigetreten sind, besonders Polen, sind gut zurechtgekommen und zählen heute zu denen, die eine rationale Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben. Die Schuldenkrise hat eine weitgehende Übereinstimmung der polnischen und der deutschen "Stabilitätskultur" - wie sie in Berlin genannt wird - zum Vorschein gebracht. Es hat sich herausgestellt, dass Polen schon lange konsequent den Weg geht, den Deutschland heute dem übrigen Europa empfiehlt. Polen hat bereits 1997 eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert, was dem Land zugutekam. Das bestätigen die in Europa höchsten Wachstumsraten während der Wirtschaftskrise. Auf der Rangliste der Ratingagentur A.T. Kearney rückte Polen in den Jahren 2007-2010 von Platz 22 der Länder, in die sich zu investieren lohnt, auf Platz 6 vor. Wir haben die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage genutzt, um uns an den Hilfspaketen für Island, Lettland und Moldawien zu beteiligen. Die Wirtschaftspresse in Deutschland ist ein klarer Fan von Polen, das sich von einem als "Problemfall" geltenden Land überraschend zu einem "Teil der Lösung" auf dem europäischen Kontinent gewandelt hat. In diesem Bereich vollzieht sich, meiner Ansicht nach, die wichtigste Änderung in der Wahrnehmung des polnischen Nachbarn durch die deutsche Gesellschaft und ihre politischen Eliten. 

Das sollte uns dabei helfen, gegen das Gift der Vorurteile immun zu werden. Je mehr Raum Europa und die deutsch-polnischen Gespräche über dessen Zukunft einnehmen, desto weniger Zeit bleibt uns für provinzielle Streitereien. Vor Kurzem hat man in Europa entdeckt, dass die Welt nicht nur aus Ost und West besteht - denn während der Wirtschaftskrise sprach man eher von einer Teilung des Kontinents in Nord und Süd. Selbstverständlich geht es nicht darum, die alten und stigmatisie­renden Teilungen jetzt durch neue zu ersetzen. Aber diese Änderung der Wahr­nehmung, dieser Bruch mit dem simplifizierenden Klischee können auch eine heilende Wirkung haben. Für Polen wird es vielleicht leichter, die negative Abstempelung als Peripherie und "Osten" loszuwerden, der als unerschöpfliche Quelle von Gefahren und als Sorgenkind herhielt - was sehr zum Wohlbefinden im Westen, wie auch im Südwesten beitrug ... 

Basil Kerski: Welche Bedeutung haben die deutsch-polnischen Beziehungen für das heutige Europa? Verlieren sie jetzt für die EU nicht an Bedeutung, wo Polen nicht zur Eurozone gehört und die Verbindungen zwischen den Ländern mit gemeinsamer Währung immer stärker werden? 

"Polen und Deutschland sind dafür prädestiniert, neue Teilungen auf dem Kontinent zu verhindern"

Marek Prawda: Vor über 30 Jahren entstand in Polen die größte europäische Bürgerbewegung, die "Solidarnosc", und vor rund 20 Jahren kam es zur Vereinigung Deutschlands. Diese Ereignisse haben viel gemeinsam. Die Solidarnosc löste eine Lawine aus, die die Teilung Europas aufhob, sie setzte einen Prozess in Gang, der die kommunistischen Machthaber in Polen im Frühjahr 1989 endgültig jeglicher (Schein-)Legitimität beraubte. Das ging auf untypische Weise vonstatten, denn anstelle einer Guillotine kam der Runde Tisch zum Einsatz - und wie wir wissen, finden radikale Systemwechsel meist auf den Barrikaden statt. Auch die Deutschen haben sich untypisch, da ohne Krieg wiedervereinigt - dieser Prozess war gegen niemanden gerichtet. Deutschland vereinigte sich gemeinsam mit Europa und trug zur Überwindung der europäischen Teilung bei. Heute dürfen wir mit Recht sagen, dass Polen und Deutsche - wenn auch auf verschiedenen Wegen - unumkehrbare Veränderungen in Europa bewirkt haben. Daher sollten wir auch den Mut haben, zu fragen, ob daraus nicht eine besondere Verpflichtung gegenüber Europa resultiert. Was können Polen und Deutsche, trotz der offenkundigen Unterschiede in ihrer Leistungsfähigkeit, gemeinsam Europa anbieten? 

Zum einen scheinen beide Länder dafür prädestiniert zu sein, neue Teilungen auf dem Kontinent zu verhindern und die Perspektive aufrechtzuerhalten, weitere Millionen Europäer an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Standards der EU teilhaben zu lassen. Heute wissen wir auch, wie wichtig es ist, zivilgesellschaftliche Strukturen in der unmittelbaren Umgebung der EU - im Osten und im Süden - zu fördern. Dabei sollte Polen seine Erfahrungen als ein Land des demokratischen Umbruchs und der Transformation einbringen. Zum anderen ist wirtschaftliche und finanzielle Konsolidierung das Gebot der Stunde - die überraschende Übereinstimmung der deutschen und polnischen Rezepte wie auch die Zusammenarbeit in diesem Bereich hatte ich ja bereits erwähnt. Dies wird eine der Schlüsselaufgaben für die polnische EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2011. Außerdem sollten Polen und Deutschland den "Pathologien" in der EU entgegenwirken, der Versuchung der Renationalisierung widerstehen, die europäischen Grundwerte - Toleranz und Offenheit - schützen. Die Krise brachte die Neigung der Politiker zum Vorschein, sich im Angesicht der Gefahr ins nationale Schneckenhaus zurückzuziehen, auf Protektionismus zurück- oder populistische Ideen aufzugreifen. Dieser Weg führt ins Nirgendwo. Aber Europa fand die Kraft dazu, eigene Instrumente auszuarbeiten und uns vor dem Schlimmsten zu bewahren. 

Was das Projekt einer Wirtschaftsregierung in der Eurozone und die damit verbundenen Befürchtungen vor dem Entstehen eines "Europa der zwei Geschwindigkeiten" angeht, denke ich, dass wir zu einem Kompromiss gekommen sind, der dieses Risiko verringert. Unter anderem auf Betreiben Deutschlands wurde eine offene Form durchgesetzt, die es Ländern, die nicht der Eurozone angehören, ermöglicht, sich dem sogenannten "Pakt für den Euro" anzuschließen. Polen hat als einer der ersten Staaten angekündigt, dem Pakt beizutreten, was dem Land die Chance eröffnet, sich an wichtigen Debatten über die Zukunft der EU zu beteiligen. Das wird die Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen nicht nur nicht schwächen, sondern kann sie sogar stärken: Im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten erfüllt Polen schon heute die Anforderungen, die an die potenziellen Mitglieder des Pakts gestellt werden. So kann Deutschland, das diese Lösung unterstützt hat, mit Polen einen wichtigen Partner für die Gespräche über die Überwindung der Krise gewinnen. 

Ich glaube, eine besondere Verpflichtung unserer beiden Länder gegenüber Europa ist die Vollendung der Integration beider Teile Europas, nicht nur politisch, wirtschaftlich oder mental, sondern auch verkehrstechnisch. Wir sind in Polen nicht sonderlich zufrieden mit dem Tempo des Autobahnbaus, aber endlich ist es hier zu einer Beschleunigung gekommen: Im November soll der letzte, 120 Kilometer lange Autobahnabschnitt bis zur deutschen Grenze fertig werden. Es kommt jedoch vor - wie bei einigen Bahnverbindungen -, dass es die deutsche Seite ist, die ihre Aufgaben vernachlässigt. Deswegen kann die mit enormem Aufwand modernisierte Bahnstrecke von Oppeln über Breslau nach Berlin nicht völlig genutzt werden. Im Endeffekt dauert die Fahrt von Breslau bis nach Berlin einige Stunden länger als vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch die Elektrifizierung des fehlenden, 33 Kilometer langen deutschen Abschnitts auf der Strecke Berlin - Stettin wird verzögert. Sie scheitert nicht an Geldmangel, sondern an der fehlenden Bereitschaft, diese Verbindungen als dringend und wichtig anzuerkennen. Angeblich würde sich ihre Modernisierung "nicht lohnen". 

Ich bin anderer Ansicht. Es darf nicht sein, dass sich das Zusammenwachsen von Ost und West "nicht lohnt". Sollen wir den Danziger Werftarbeitern oder den Berliner Demonstranten von 1989, die viel riskiert haben, um der unmenschlichen Teilung Europas ein Ende zu setzen, sagen, ihr Unterfangen habe sich als wenig einträglich herausgestellt? Heute müssen wir ihnen mitteilen, dass Züge aus Polen die Lokomotiven wechseln und auf der deutschen Seite langsamer fahren müssen. Das ist ein Beispiel für ein "Europa der zwei Geschwindigkeiten", das ich am meisten fürchte. Es lebt in den Köpfen. 

Aus dem Polnischen von Monika Satizabal Niemeyer 

Dr. Marek Prawda, geb. 1956, Diplomat und Soziologe, seit 2006 Botschafter der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland, seit 1992 im diplomatischen Dienst Polens, 2001-2005 Botschafter der Republik Polen im Königreich Schweden, 1999-2001 Direktor der Abteilung Westeuropa im polnischen Außenministerium, von 1991-1992 Generalsekretär des Landesverbandes der Polnisch-Deutschen Gesellschaften, 1979-1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau.