Solidarność 1980-1989. Eine lange polnische Revolution.

Wenn wir über die "Solidarność"-Revolution nachdenken, so müssen wir sie als einen von 1980 bis 1989 dauernden Prozess betrachten. Der Umbruch von 1989 wäre nicht möglich gewesen ohne die Ereignisse von 1980: das Danziger Abkommen, die Bildung von "Solidarność", ohne ihren ideellen Charakter sowie ihre Führungseliten - all die Personen wie Lech Wałęsa, Tadeusz Mazowiecki, Bronisław Geremek, Adam Michnik und Jacek Kuroń, die 1989 eine Schlüsselrolle spielten. 


Es gab einige Ereignisse, die nicht nur aus der Perspektive von 1989, sondern auch aus der von 1980 entscheidend waren. Das Jahr 1956 - mit seinen Konsequenzen für das öffentliche, kulturelle und wissenschaftliche Leben Polens - war für die weiteren Jahrzehnte ausschlaggebend. Von diesem Zeitpunkt an spielten mehrere Faktoren eine wesentliche Rolle: zum einen war es die Unabhängigkeit und starke Position der katholischen Kirche; zweitens die Unabhängigkeit und Stärke intellektueller Kreise, die sich nach 1956 nicht als Fortsetzung des Propaganda-Apparates verstanden, sondern an Autonomie gewannen, um sie dann immer wieder verteidigen zu müssen, wodurch sie im öffentlichen Leben Zeichen setzten. Drittens wurden weitreichende Reflexionen über den osteuropäischen Kommunismus ausgelöst, über den Stalinismus und den Charakter des poststalinistischen Systems. Es entstanden wichtige Texte zu diesen Fragen - unter anderem von Stefan Kisielewski, Jacek Kuroń und Adam Michnik. Es wurden grundlegende Erfahrungen im Hinblick auf Widerstandsstrategien gesammelt, die für die 1960er und 1970er Jahre von großer Bedeutung waren.

Ein weiteres für die Entstehung der Solidarność-Bewegung entscheidendes Ereignis war die Geburt der demokratischen Opposition Mitte der 1970er Jahre - mit dem Programm von KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) zum politischen Kampf und Aufbau autonomer Strukturen sowie mit dem Erscheinen des "Zweiten Umlaufs", also unzensierter Publikationen. All das erzeugte ein intellektuelles Umfeld sowie eine gewisse Freiheit, politisch über Ziele und Praktiken des Freiheitskampfes zu reflektieren. So war der geistige Boden für die Entstehung der "Solidarność" 1980 vorbereitet, nicht zuletzt durch Johannes Paul II. und dessen Pilgerreise nach Polen im Jahre 1979.

Bei den Überlegungen über das Jahr 1989 sollten alle oben genannten Aspekte beachtet werden. In Polen gehörten dazu die Erfahrungen der Opposition: die einer unabhängigen gesellschaftlichen Aktivität, aber auch die der Furcht, der Wandlungsprozess könnte der Kontrolle der aktiven Opposition entgleiten. Man stellte Reflexionen über die Aussichten des Freiheitskampfes in einem nicht souveränen Staat an und berücksichtigte dabei die Erfahrungen Ungarns von 1956 - einer Gesellschaft, die den Kommunismus mit einem einzigen, stürmischen Aufbegehren verwarf, was den Einmarsch der Sowjets nach sich zog. Von Bedeutung waren auch die Erfahrungen der Tschechen und Slowaken im Jahr 1968 mit einer vom Staat initiierten, revisionistisch ausgerichteten Reform, bei der die Partei das Ziel verfolgte, die Freiheiten der Gesellschaft auszubauen. Auch dieser Versuch endete mit einer sowjetischen Intervention. Diese Erfahrungen waren enorm wichtig, genauso wie ihre Reflexion in den Jahren 1980-1981, als die "Solidarność" entstand; die Solidarność-Führer bemühten sich, diesen Gefahren auszuweichen. Die strategischen Überlegungen der Opposition, formuliert durch deren Intellektuelle sowie durch politische Anführer, äußerten sich in der Suche nach einer Lösung, die es ermöglicht hätte, dieser Falle zu entgehen. Das war nicht ganz erfolgreich: Am 13. Dezember 1981 wurde in Polen das Kriegsrecht verhängt. Doch die Erfahrungen von 1981 sowie die für einige Jahre auf Eis gelegte Revolution wurden 1989 freigesetzt, wenn auch in einer anderen Form. 


Ohne Gorbatschow und das "Tauwetter" im Osten hätte es die Ereignisse von 1989 ebenfalls nicht gegeben. Die Perestroika ermöglichte sowohl den polnischen Eliten als auch den Parteireformern, sich nach einem Modernisierungsweg umzuschauen. Eine Art Prozess der gesellschaftlichen und politischen Dynamik wurde in Gang gesetzt und dieser führte - beginnend mit den Gesprächen am Runden Tisch bis hin zu den Juniwahlen und der Regierung Mazowieckis - zum allmählichen Systemwechsel. Polen hatte es leichter. Aufgrund einiger Faktoren, die es bei unseren Nachbarn nicht gab, konnte Polen zum Vorreiter werden. Ein solcher Faktor - von äußerster Wichtigkeit - war die starke Stellung der katholischen Kirche. Die Kirche war es nämlich, die unabhängig von den doktrinären Prinzipien einen Raum schuf für Gedankengut, das alternativ zu dem von der Staatsmacht aufgezwungenen war und einen Schutzschirm für Menschen in verschiedenen Gefahrensituationen bildete, beispielsweise während des Kriegsrechts. Schließlich wurde die Kirche sowohl durch die Opposition als auch durch die Machthaber als Autorität, Vermittler und Garant für Kompromisse anerkannt.

Ebenso wichtig war die lang anhaltende Erfahrung - ich greife weit zurück, doch ich halte es für erwähnenswert - des Zweiten Weltkrieges und einer gewissen Sichtweise auf die Rolle Polens im Bezug auf die damaligen Ereignisse. Es handelt sich um das in den Polen tief verwurzelte Gefühl, dass wir, die Polen, uns während des Zweiten Weltkrieges korrekt verhielten, auf der richtigen Seite waren, und uns trotzdem ein ungerechtes Schicksal traf: der Verlust der Freiheit und Unabhängigkeit, die sowjetische Dominanz. Dieser Umstand spielte - und spielt meiner Meinung nach weiterhin, auch in den nachbarschaftlichen Beziehungen - für die polnische Mentalität eine große Rolle. 1989 war er als eine Warnung präsent, bloß nichts zu überstürzen und nichts zu riskieren. Er mahnte zur Vorsicht und zum gründlichen Nachdenken über eine Strategie. Die Jahre 1980-1981 waren in Polen wirklich revolutionär.

Andrzej Wajda erzählte mir kürzlich, vor dem Beginn der Dreharbeiten zu "Danton", im Herbst 1981, besuchte ihn in Warschau Gérard Depardieu, mit dem Wajda dann zum Sitz der "Solidarność" für die Region Masowien in Warschau ging. Der Regisseur und der Schauspieler sahen, was sich da abspielte, die Atmosphäre angespannter Nervosität, der Aufregung, der Ungeduld, des Durcheinanders - die typische Atmosphäre einer Revolution, die wir dann später in dem "Danton"-Film widergespiegelt fanden. 1989 herrschte eine andere Stimmung, das war keine Revolution mehr. Der revolutionäre Geist schwebte vielleicht noch über den Vorbereitungen für die Juniwahlen, doch das war bereits ernsthafte Politik, die Eliten hatten einen entscheidenden Einfluss auf die Verhandlungen und die endgültige Gestalt des Kompromisses. 


Unter den vielen Faktoren, die zu den Ereignissen von 1989 beigetragen haben, würde ich in erster Linie die wirtschaftliche Krise hervorheben. Für Polen hatte sie eine besondere Relevanz - ähnlich wie für andere Länder unseres Blocks, die zu dem sogenannten äußeren sowjetischen Imperium gehörten. Heute wird die damalige Krise außer Acht gelassen, dabei war der wirtschaftliche Zusammenbruch Polens während der Ära Edward Giereks der Anlass, der die Arbeiterproteste auslöste. Ohne die wirtschaftliche Krise wäre "Solidarność" vermutlich nicht entstanden. Der Zusammenbruch der Wirtschaft war ein vorherrschendes Problem im Polen der 1980er Jahre und trug zur Bloßstellung des Systems bei. Auch dem Regime nahestehende Menschen, darunter seine Beamten, erkannten dessen Unvermögen. Die auf Eis gelegte gesellschaftliche Revolution traf im rechten Moment auf eine relativ zahlreiche Gruppe von Regimevertretern oder gar Regierungsmitgliedern, die einem Systemwechsel offen gegenüber standen. Das war etwas Außergewöhnliches und Seltenes in Anbetracht der vorangegangenen gesellschaftlichen Umbrüche, und aus der Perspektive der kommunistischen Ideologie überhaupt unvorstellbar.

Beim Thema "Solidarność" darf Papst Johannes Paul II. nicht fehlen. Allein die Wahl eines Polen zum Papst war für die Entstehung von "Solidarność" von großer Bedeutung. Auf die Nachricht über das Wahlergebnis reagierten die Menschen mit Erstaunen: "Wie konnte das geschehen, ein Pole wurde Papst? Das ist unmöglich! Ein Ausländer? Kein Italiener?" Das kam 500 Jahre lang nicht vor. Und wenn etwas seit 500 Jahren nicht passiert ist, kann man davon ausgehen, dass es nie passieren wird. Und doch geschah es und ließ das Gefühl von Stolz und Würde unter den Polen anwachsen. Im Juni 1979 fand die erste Papstreise nach Polen statt. Sie war nicht nur aus ideologischen Gründen wichtig, nicht nur wegen seiner Worte: "Dein Geist komme herab und ändere das Antlitz der Erde … dieser Erde."

Seltener wird daran erinnert, dass der Papst während dieser Reise, in Gnesen, von der geistigen Einheit des christlichen - westlichen und östlichen - Europas sprach. Es gibt die Einheit Europas - das wurde zum ersten Mal so deutlich ausgesprochen. Die Kommunisten verstanden das, es gibt Zeugnisse, die Interventionsversuche von ihrer Seite belegen; ihrer Ansicht nach hatte der Papst gewisse ungeschriebene Regeln gebrochen. 


Die erste Polenreise des Papstes ermöglichte allen Polen, sich außerhalb der staatlichen Strukturen zu organisieren. Millionen von Menschen nahmen an päpstlichen Gottesdiensten teil. Diese Menschen liefen, fuhren hin, organisierten sich, nahmen am Gottesdienst teil, kehrten zurück; unterwegs mussten sie für ihre Sicherheit sorgen, sich um die Schwächeren sowie die Versorgung der Kranken kümmern; zu Tausenden gingen sie durch die Straßen ohne Einsatz der Miliz und bildeten Versammlungen von Millionen. Die Menschen merkten, dass sie sich selbst organisieren können und dass sie viele sind. "Eine Million von uns steht auf dem Platz - wir tun das für uns und wir wollen niemandem schaden, aber wir sind souverän; wir selbst - unabhängig von den Machthabern." Ohne diese Erfahrung von 1979, die mehrere Großstädte mit insgesamt einige Millionen Menschen erfasst hatte, wäre die "Solidarność" kaum vorstellbar, und mit Sicherheit wäre sie anders geworden. 


Ich erinnere mich an den Streik von 1980, den Verlauf der Streiks in anderen Städten, an die leise Entschlossenheit, die für "Solidarność" charakteristisch war; niemand zerschlug Fensterscheiben, niemand wollte auf jemanden losgehen, niemand wollte jemanden - um Gottes willen - aufhängen; ich sehe ausschließlich diese leise Entschlossenheit und das Gefühl der Stärke, mit deren Hilfe Zugeständnisse erzwungen wurden. 
Wichtig für die Ereignisse von 1989 waren auch die deutsch-polnischen Beziehungen. Die Legitimierung der kommunistischen Macht in Polen beruhte über lange Zeit auf der Aufrecherhaltung der Furcht vor den Deutschen im Hinblick auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. In den 1970er und 1980er Jahren wurde diese Furcht allmählich abgebaut. Das Auftreten und die Auftritte deutscher Politiker - angefangen mit Willy Brandt über Helmut Schmidt - aber auch der Mitglieder der Aktion Sühnezeichen, der Opposition in der DDR sowie von Kirchenkreisen trugen in Polen enorm zum Abbau der Furcht vor den Deutschen bei. Hätte es eine solche Furcht wie in den 1960er Jahren gegeben, hätten die Polen vermutlich keinen so großen Schritt gewagt. Diese Bedenken wurden aus dem Weg geräumt, in Polen gab es Zustimmung für die Wiedervereinigung, was zwanzig Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. 


Ich muss hier auch ein anderes Phänomen erwähnen: das nationale Selbstwertgefühl. Das ist eine komplizierte Angelegenheit, und das Jahr 1956 war hierfür sehr wichtig. Seit 1956 gelang es nämlich dem Regime, folgendes Bild zu vermitteln: Zweifellos sind wir eine von Moskau abhängige Diktatur und dennoch polnisch. Kaum jemand hielt Gomułka oder Gierek für nichtpolnische Politiker. Doch gleichzeitig gab es ein geradezu schizophrenes Problem - dieses Wort stellt den geistigen und emotionalen Zustand der Menschen treffend dar, denn beinahe alle hielten die Bereiche des Öffentlichen und des Privaten voneinander getrennt. Der durchschnittliche Pole lebte im Alltag nach den allgemeinen Regeln des Konformismus: Bei der Arbeit, in der Schule, im offiziellen, intellektuellen und publizistischen Umfeld wurden bestimmte Bereiche, über die man nicht sprach und die man nicht in Frage stellte, ausgeschaltet. Wenn er jedoch nach Hause kam, mit Frau und Kindern sprach, wenn er Radio Free Europe hörte, lebte er in einer anderen, parallelen Wirklichkeit. Diese beiden Bereiche berührten sich nicht. Auf diese Weise lebte die gesamte Gesellschaft einschließlich des katholischen Klerus. Bei den Sejmwahlen wählten 90 Prozent der Priester den Wünschen der Machthaber entsprechend - ohne Namen durchzustreichen. Somit lebten die Menschen, die allein aufgrund ihrer Weltanschauung in Opposition zum System standen - und ich spreche von den 1960er Jahren -, ebenfalls schizophren.

"Solidarność" löste einen Prozess aus, der diese Schizophrenie durchbrach. Es war nicht so sehr die Gewerkschaft selbst, sondern vielmehr die von "Solidarność" entfesselte soziale und ideologische Bewegung. Wichtig waren hierbei die vor 1980 gesammelten Erfahrungen der Opposition: die KOR- sowie die Samisdat-Erfahrungen. Eine politische Idee wurde aufgeworfen, und diese überzeugte die jungen Eliten, die später für die Bewegung fundamental wurden: Schluss mit der Schizophrenie, wir boykottieren die Wahlen, wir akzeptieren das nicht, wir werden nicht das eine offiziell und das andere privat sagen; sprechen wir immer gleich, unabhängig von der Situation. Sagen wir die Wahrheit. Wir werden nicht mehr so tun, als würden wir von den polnisch-sowjetischen Problemen nichts wissen und nicht darüber sprechen, wobei doch ein ganzer Komplex aus dem offiziellen Diskurs ausgeschlossen war: der Polnisch-Sowjetische Krieg von 1920, Katyń, sowjetische Repressionen, Repressionen gegen die Heimatarmee. 
Die Opposition brach diese (Schweige)Regel. Verschiedene bisher tabuisierte Themen und Probleme wurden in den Oppositionskreisen behandelt, um anschließend in die Diskussionsrunden und den Zweiten Umlauf der "Solidarność" überzugehen.

Auch in dieser Hinsicht wurde "Solidarność" zu einem starken nationalen Erlebnis. Gleichzeitig hatte diese Hinwendung zu den tragischen Kapiteln unserer Geschichte keineswegs einen nationalistischen Charakter. Auch wenn "Solidarność" den in Polen lebenden Weißrussen Sorgen machte, waren die Ukrainer nicht unbedingt beunruhigt. In ihrem Grundgedanken war die "Solidarność" zwar an die nationale Tradition angelehnt, doch wurde sie so verstanden, dass wir Polen uns gleichzeitig offen und freundlich gegenüber anderen verhalten. Das Gefühl nationaler Stärke war vorhanden, jedoch ohne Aggression. Zweifellos diente dies der Steigerung des nationalen Selbstwertgefühls, aber zugleich der Aufwertung einer solchen Haltung gegenüber den Nachbarn, die eine Zusammenarbeit mit ihnen akzeptierte. Das war sehr wichtig sowohl in Bezug auf die Tschechoslowakei als auch auf Litauen. Bald, in den späten 1980er Jahren, waren dieser Öffnungsprozess bei den Eliten der Solidarność-Bewegung sowie die Suche nach Verbündeten nicht mehr spontan, sondern durchdacht. Debatten und Diskussionen fanden statt. Einst wurden sie im Exil geführt - Teilnehmer war u. a. Bohdan Osadczuk -, aber in den 1980er Jahren wurden diese Themen in zahlreichen Untergrundpublikationen behandelt. Man suchte nach Brücken, nach Verständigung mit Ukrainern, Litauern, Tschechen - weniger mit Ungarn und Russen -, und das war ein positives nationales Gefühl, geschaffen ohne Furcht und Rückforderungsansprüche. Einen solchen Bewusstseins- und Geisteszustand herzustellen, war keineswegs selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass die Grenzen Polens infolge des Zweiten Weltkriegs verschoben wurden und somit das Problem von Wilna und Lemberg existierte. Zu verschiedenen Zeitpunkten gab es bestimmte Kreise, die aus derlei Inhalten politisches - nationalistisches - Kapital schlagen wollten, was die Situation hätte verkomplizieren können. Dazu kam es nicht, denn die richtig verinnerlichten und interpretierten Erfahrungen, die durch die Eliten, darunter auch durch Johannes Paul II., weitergetragen und in der "Solidarność"-Gemeinschaft verbreitet wurden, machten solcherlei Ressentiments aussichtslos, was zum Erfolg des europaweiten Umbruchs von 1989 beitrug. 


Denken wir über andere Revolutionen nach, zum Beispiel über die Französische Revolution, finden wir ein anfängliches Hochgefühl, ein Gefühl der Freude, der Selbstverwirklichung, Freiheitserlangung; doch dann folgen der bedrückende Alltag und verschiedene Sorgen meist finanzieller Natur. Die schöne Farbe der Revolution verblasst. Sie kehrt zwar einige Zeit später zurück, bei der nächsten Generation, denn nach längerer Zeit erinnert man sich an das Ergebnis, doch nicht unbedingt an die schmerzhaften Erfahrungen jener Periode. 


Im heutigen Polen wird die Erinnerung an die damalige Zeit abgewertet. Dieses Problem betrifft gleichermaßen Lech Wałęsa wie die Gespräche am Runden Tisch. Im Grunde genommen wurde ihr Jahrestag nicht gefeiert - das Jubiläum verstrich unbeachtet, obwohl das der Beginn der polnischen Unabhängigkeit war. Warum? Weil das Jahr 1989 einen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umbau einleitete, der für viele Menschen schmerzhaft ausfiel. Die Einführung des Kapitalismus anstelle der sozialistischen Wirtschaft verursachte die Abnahme des Gefühls der sozialen Sicherheit in vielen Gesellschaftsschichten. Wohlhabende Schichten bildeten sich heraus, und die anderen - unter anderem Arbeiter - spürten den Verlust ihres bisherigen finanziellen Status. Die gesellschaftlich-wirtschaftlichen Veränderungen hatten zur Folge, dass ein Großteil der Polen sich entweder mehr oder minder degradiert fühlte, oder - im Vergleich mit Anderen - kein Gefühl von materiellem Erfolg verspürte, den es erreichen zu können glaubte. Ich nenne dies "Gifte der Transformation". Diese Gifte rufen Vorwürfe gegenüber den Akteuren von 1989 hervor - gegenüber Wałęsa, Mazowiecki, Geremek -, wobei es um Arbeitslosigkeit, niedrige Renten oder die gestiegenen Kosten für ärztliche Behandlung geht. 


Diese Vorwürfe sind natürlich und unvermeidlich. Die Politiker - die Gesichter der Transformation - übernehmen Verantwortung auch für die Kosten, die notwendig waren. In jeder Gesellschaft gibt es soziale Unterschiede, doch besonders stark werden sie von denjenigen empfunden, die einen gesellschaftlichen Umbruch unmittelbar miterlebt haben und sich mit ihrer Lage nicht abfinden wollen, was zur Entstehung von Vorwürfen führt. Das wird häufig in politischen Intrigen und Angriffen - auch auf Wałęsa - missbraucht. Es genügt, nur die Beiträge in Internetforen zu lesen; die meisten Vorwürfe lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: "Warum hast du es so gemacht, dass die Industrie zusammengebrochen ist, unsere Arbeitsplätze weg und wir arm sind? Du wolltest die Kommunisten mit leeren Händen zum Teufel jagen, und was hast du getan?"

Das ist der Kern der Vorwürfe, zu denen noch verschiedene politische Beschuldigungen hinzugefügt werden in Verbindung mit einer Amnesie. Aus diesem Grund habe ich bereits angeführt, wie wichtig es ist, die Wirtschaftslage der damaligen Zeit ins Gedächtnis zu rufen, denn die Menschen erinnern sich heute nicht mehr an das Ausmaß der Krise. Meine Studenten lassen die Krise von damals außer Acht, sie ist für sie kaum vorstellbar. Immer seltener wird daran gedacht, was die Sowjetunion war, wie gefährlich sie war und dass die Panzer nicht nur an der Grenze im Osten, sondern auch an der Grenze zwischen Polen und der DDR standen. Die Tatsache, dass sich die jungen Menschen nicht mehr daran erinnern, bedeutet einen Gedächtnisschwund nicht nur in Bezug auf unsere großen Taten, sondern auch auf die unserer Nachbarn, unserer Freunde. Der Gedächtnisschwund und die Strapazen der Transformation haben zur Folge, dass die Einzigartigkeit jener Epoche nicht so geschätzt wird, wie sie es verdient.

Doch seien wir optimistisch. Das war wirklich eine große Sache, die man als Wunder bezeichnen kann. Das polnische Wunder bestand darin - heute kaum zu glauben -, dass die Anführer der Opposition - die Verfolgten - sich mit General Jaruzelski zusammensetzten und mit ihm einig wurden; mit demselben General, der in Polen das Kriegsrecht verhängt und sie ins Gefängnis gesteckt hatte. Dieser Kompromiss stellte sich als stabil heraus, der Aufbau eines demokratischen Staates konnte beginnen. Ohne eine Auseinandersetzung, ohne Blutvergießen gab Jaruzelski die Macht an die "Solidarność" ab. Unser Teil Europas erwies sich als stabil, die Demokratie etablierte sich. Meiner Auffassung nach war das ein Riesenerfolg. Und ich nehme nicht an, dass das Urteil kommender Historiker anders ausfallen wird. 

Aus dem Polnischen von Monika Satizabal Niemeyer 

Andrzej Friszke 
Professor für Geschichte, Mitarbeiter des Instituts für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Redakteur der Monatszeitschrift "Więź", seit 2000 Vorstandsvorsitzender des Vereins "Solidarność-Archiv", lebt in Warschau. 

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Vortrag, den Andrzej Friszke im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Europa - ein unvollendetes Abenteuer" gehalten hat. Diese Reihe wird vom Polnischen Institut Berlin, der Landesvertretung des Landes Brandenburg beim Bund und der Redaktion des Magazins DIALOG seit 2007 in Berlin durchgeführt.