Witold Molik: Die Posener Medici: Ein Porträt der Familie Raczyński

Die Familie Raczyński gehört zu den bedeutendsten polnischen Hochadelsgeschlechtern. In den vergangenen drei Jahrhunderten brachten sie viele beeindruckende Vertreter hervor, die im politischen und gesellschaftlichen Leben wichtige Rollen spielten und sich auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst verdient machten. Einige von ihnen bekleideten wichtige Posten oder öffentliche Ämter, begegneten und arbeiteten mit Persönlichkeiten zusammen, die Geschichte schrieben.

Sie hinterließen ein großes geistiges Erbe, intellektueller und materieller Art, das seit Langem das Interesse deutscher und polnischer Historiker weckte und in den vergangenen Jahrzehnten Gegenstand breiterer, interdisziplinärer Studien wurde. Ihre bemerkenswerten Leistungen auf dem Gebiet der Kultur, Wissenschaft und Politik verdankten die bedeutendsten Vertreter der Familie ihrer vielseitigen Bildung, künstlerischen Ader, großen Fremdsprachenbegabung sowie gewissen persönlichen Eigenschaften: Sie setzten sich große Ziele und sorgten für deren richtige Umsetzung, waren bereit, am öffentlichen Leben teilzunehmen, traten für ihre Werte und politische Ansichten entschlossen ein und – zu guter Letzt – wiesen Beharrlichkeit auf, wenn es um die Leitung und den Abschluss von langfristigen und komplizierten Angelegenheiten ging. In der Ahnengalerie der Familie Raczyński fehlte es nicht an kontroversen Gestalten, Luftikussen und Taugenichtsen. Das Schicksal vieler Familienmitglieder war verworren, reich an Glück und Dramen, Romanzen, erfüllter aber auch tragischer Liebe und Krankheiten; es gab sogar einen legendenumwobenen Selbstmord. All das weckt immer wieder das Interesse an der Geschichte des ganzen Adelsgeschlechts.

Die Anfänge der Geschichte der Familie Raczyński sind ungenügend dokumentiert. Ihre Stammväter waren vermutlich Ritter aus der Wappengemeinschaft Nałęcz, die im 15. Jahrhundert in Raczyn und anderen kleinen Anwesen in der Gegend von Wieluń lebten. Sie waren sehr fruchtbar und mussten somit ihre Ländereien in immer kleinere aufteilen. Die Familie bekleidete ausschließlich lokale Ämter, und kein einziges ihrer Mitglieder erreichte den Status des mittleren Adels. Der soziale Aufstieg eines Zweigs der immer größer werdenden Familie begann mit Zygmunt (ca. 1590–1662), der sich im Norden Großpolens niederließ, in der bewaldeten und damals noch schwach besiedelten Gegend von Nakel an der Netze (Nakło nad Notecią). Er zeichnete sich durch Betriebsamkeit und Unternehmungsgeist aus, sodass er sich allmählich von dem örtlichen Adel abhob. Er bekam die Starostei Jasieniec (1648) in der Woiwodschaft Pommern und wurde Abgeordneter für den Sejm Großpolens (1658). Zygmunt verfügte über ein großes Vermögen, darunter die Kleinstadt Łobżenica und über ein Dutzend Dörfer. Von seinen vier männlichen Nachkommen waren die zwei mittleren Söhne von Bedeutung, welche zwei getrennte Familienzweige begründeten: Franciszek Stefan den kurländischen, und Michał Kazimierz den großpolnischen.

Franciszek Stefan (1648–1689) machte in seinem kurzen Leben keine politische Karriere, dafür wurde er aber für die Geschichte der Familie Raczyński sehr wichtig. 1680 heiratete er die aus einer vermögenden deutschen Adelsfamilie stammende Anna Ursula von Heidenstein, die fünf Jahre später verstarb und ihm den Sohn Zygmunt, zwei Töchter, ein großes Vermögen und äußerst wertvollen Schmuck hinterließ. Noch in demselben Jahr vermählte sich Franciszek erneut, diesmal mit einer nicht näher bekannten Adligen Powalska, die ihm den Sohn Andrzej schenkte. Als er vier Jahre später im Sterben lag, waren alle seiner Kinder minderjährig. Sie kamen in die Obhut ihres Onkels Jan, und anschließend der jüngeren Brüder ihres Vaters: Michał und Piotr. Nachdem beide Söhne von Franciszek volljährig geworden waren, verklagten sie – auch im Namen ihrer Schwestern – ihre Verwandten wegen des Nachlasses ihres Vaters, insbesondere wegen des mütterlichen Schmucks. Der Prozess, der mehrere Jahre dauerte, brachte dennoch keinerlei Kenntnis über den Verbleib vom Vermögen und Schmuck Anna von Heidensteins. Ihr Verlust führte jedenfalls zu einem Bruch in dem immer bedeutender werdenden Adelsgeschlecht sowie zur deutlichen Verarmung von Franciszeks Kindern und Enkelkindern.

Von seinen zwei Söhnen konnte nur Zygmunt (1682–1720) die Fortdauer der Familie sichern. Er heiratete Magdalena Sędzicka, die ihm zwei Söhne gebar – Józef und Antoni. Dem jüngeren Antoni wurden keine größeren Würden in Polen zuteil, er führte ein bescheidenes Leben. Aus seiner Ehe mit Katarzyna Szlagowska kamen zwei Söhne hervor, Ignacy und Albert. Beide hinterließen keine Kinder. Albert, ein leichtsinniger und übermutiger Mensch, trat der spanischen Armee bei, in der er den Dienstgrad eines Garde-Kapitäns erreichte. Er verliebte sich in eine spanische Fürstin, tötete ihren Mann in einem Duell und flüchtete anschließend nach Polen. Mit der Unterstützung seiner Verwandten lebte er bescheiden und gründete keine Familie. Sein Bruder Ignacy (1741–1823) wandte sich wiederum dem geistlichen Stand zu und machte eine große Karriere. In der Geschichte der Familie nahm er einen würdigen Platz ein. Ignacy trat dem Jesuitenorden bei und erhielt eine für die damalige Zeit fundierte Bildung. Nach der Auflösung des Ordens reiste er durch westeuropäische Länder. 1776 folgte seine Ernennung zum Domherrn, und siebzehn Jahre später wurde er vom Domkapitel für das Amt des Bischofs von Posen gewählt. Da er das Vertrauen der preußischen Regierung genoss, wurde er 1806 Erzbischof von Gnesen. Seine Leitung in den beiden Diözesen wurde eher kritisch beurteilt, dennoch führte er einige Veränderungen durch (er ließ die Dekanat-Kongregationen wieder einführen, trug zur Entwicklung von Volksmissionen bei und Ähnliches mehr).

Der bereits erwähnte Józef Raczyński, der ältere Sohn Zygmunts und Magdalena Sędzickas, führte das Leben eines ärmlichen Adligen in Bischke bei Usch (Byszki pod Ujściem). Er war zweimal verheiratet. Als er circa 1775 verstarb, hinterließ er seine zweite Frau, seinen Sohn Wincenty und seine zwei Töchter in großer Armut. Die minderjährigen Kinder kamen in die Obhut von Verwandten, insbesondere dem Großmarschall der Krone Kazimierz Raczyński. Dieser schickte Wincenty 1794 nach Malta, damit er sich dort auf den Beitritt zum Malteserorden vorbereiten konnte. Bereits vier Jahre später wurde er zum Ritter des Ordens geschlagen. Nach der Besetzung der Insel durch die Briten, der Auflösung des Ordens und der Ernennung des Zaren Paul I. zu seinem Großmeister ging Wincenty nach Russland, wo er eine einträgliche Komturei bekam. Auf einer Reise lernte er in Kurland Luise Anna Wilhelmine von Lüdinghausen-Wolff kennen, die er 1806 ehelichte (nachdem er die Komturei aufgegeben hatte und aus der Zölibatsverpflichtung entlassen worden war). Anschließend ließ er sich auf den von ihm erworbenen Gütern Zenhof und Rothof in der Nähe von Mitau nieder und leitete dadurch die über hundert Jahre andauernde Geschichte des deutsch-baltischen Familienzweiges ein. Von der polnischen Tradition stark beeinflusst, fühlte sich Wincenty in den Kreisen des deutsch-kurländischen Adels fremd, aber seine drei Söhne wuchsen in sie hinein. Sie erhielten eine gründliche, unter anderem auch militärische Ausbildung und wurden hochrangige Offiziere in der russischen Armee. Besonders erwähnenswert ist der älteste Sohn Wincentys, Wilhelm Leopold (1808–1889), der nach einer Karriere beim Militär, welche er mit dem Dienstrad eines Rittmeisters abschloss, das väterliche Landgut übernahm und in der Ehe mit seiner Cousine Maria Lüdinghausen-Wolff nach 15 Jahren den lange ersehnten Sohn bekam – Zygmunt Edward (1861). In der weiteren Geschichte der Familie Raczyński sollte er eine große Rolle spielen.

Der zweite, großpolnische Zweig des Adelsgeschlechts, führt auf Michał Kazimierz Raczyński (1650–1737) zurück, den dritten Sohn Zygmunts, des Starosten von Jasieniec. Er besaß eine vielseitige Bildung und erklomm schnell die Stufen der politischen Karriereleiter in Polen, wurde mit vertraulichen diplomatischen Aufgaben beauftragt und bekleidete immer höhere Ämter, darunter das des Woiwoden von Kalisch und wenige Monate vor seinem Tod auch des Woiwoden von Posen. Geschickt mehrte er auch sein geerbtes Vermögen (von 75.000 auf eine Million Florine) und am Ende seines Lebens war er einer der reichsten Großgrundbesitzer in Großpolen. Er heiratete die schöne, aber nicht vermögende Krystyna Krassowska, die ihm drei Töchter und zwei Söhne schenkte. Der ältere Sohn, Wiktor (ca. 1699–1765), erfüllte lange die Erwartungen seines Vaters nicht, indem er ein leichfertiges Leben führte. Mit der Zeit kam er jedoch zur Vernunft, bekam die Vergebung seines Vaters sowie die Hälfte seines Vermögens und heiratete anschließend Magdalena Działyńska. Aus dieser Ehe kam der Sohn Kazimierz hervor, dem Wiktor einen erheblichen Teil seines Vermögens überließ, um selbst im Alter im Bernhardinerkloster in Łowicz (Lowitsch) zu leben. Der zweite Sohn Michałs, Leon Raczyński (1700–1755), trat der österreichischen Armee bei, in der er es bis zum Generaloberst brachte. Anschließend verließ er die Armee, um sich der Politik und der Verwaltung des Familienbesitzes zu widmen. In der Politik konnte er keine größeren Erfolge verzeichnen, wohingegen sein Vermögen erheblich größer wurde. Er galt als ein guter Verwalter und unterstützte großzügig öffentliche Initiativen – unter anderem stiftete er den Lehrstuhl für Wirtschaft an der Lubrański-Akademie in Posen (1751). Es dauerte lange, bis er eine Familie gründete. Er heiratete erst im Alter von 40 Jahren Wirydiana Bnińska, mit der er den Sohn Filip und die Töchter Katarzyna und Estera hatte.

Und nun kommen wir in dieser kurzen Geschichte bei der elften Generation der Familie an, die lediglich von zwei Cousins vertreten war: Kazimierz und Filip. Der ältere von den beiden, Kazimierz Raczyński (1739–1824), „wurde zur bedeutendsten Persönlichkeit in der Familie“ und führte sie in die Kreise der Aristokratie ein. Nach einer soliden Ausbildung entwickelte er bereits in seinen jungen Jahren Interesse an Politik. Nachdem Stanisław August Poniatowski zum König gewählt worden war, wurde Kazimierz zu einem der Organisatoren und Anführer des königlichen Lagers in Großpolen, von wo aus er mehrmals als Abgeordneter für den Sejm kandidierte. Er erwarb das Gut Rogalin bei Posen und verwandelte es in einen herrlichen Adelssitz, der zahlreiche adlige Gäste anzog. 1778 erhielt er das hoch angesehene Amt des Generalstarosten von Großpolen und leitete die Kommission für Gute Ordnung (Komisja Dobrego Porządku) in Posen. In dieser Funktion trug er zur Verbesserung des Zustands der Stadt bei. Seine politische Karriere koppelte er an die Politik Russlands und arbeitete mit den russischen Botschaftern in Warschau eng zusammen. Seit 1776 bezog er vom russischen Hof ein Jahresgehalt in Höhe von 1.500 Dukaten, was ein schlechtes Licht auf ihn warf. 1780 wurde er Mitglied im Ständigen Rat, in dem er zwei Jahre später in das Amt des Marschalls gewählt wurde. Während des Vierjährigen Sejms sprach er sich für die Aufrechterhaltung der bisherigen Regierungsform und die Zusammenarbeit mit Russland aus. Er leistete keinen Eid auf die Verfassung vom 3. Mai 1791, nahm an der Konföderation von Targowica teil und unterstützte sie mit seiner Arbeit. Er galt als heuchlerischer Mensch von brillantem Verstand. Nach der dritten Teilung Polens, als Warschau an Preußen fiel, schwor er König Friedrich Wilhelm II. Treue, wofür ihm 1798 der preußische Grafentitel verliehen wurde. In den letzten Jahren seines Lebens widmete er sich gänzlich seiner Familie und der Verwaltung seiner Güter. Im Privatleben hatte Kazimierz keinen Erfolg. In der Ehe mit Teresa Moszczeńska erfuhr er kein Glück. Beide beschäftigten sich mit ihren eigenen Angelegenheiten, scheuten keine Affären und Extravaganzen. Obwohl sich Kazimierz einen männlichen Nachkommen wünschte, brachte seine Frau zwei Töchter zur Welt: Magdalena und Michalina. Um die Fortdauer der Familienlinie zu sichern, zwang er seine jüngere Tochter Michalina – unbeachtet ihres eigenen Glücks – ihren bejahrten Cousin, Filip Raczyński, zu ehelichen (1784).

Filip Raczyński (1747–1804), genauso vielseitig gebildet wie die anderen Vertreter des Adelsgeschlechts, hatte vor, eine militärische Karriere einzuschlagen. Dem Beispiel seines Vaters folgend, kaufte er sich ein Reiter-Regiment, wurde bereits im zarten Alter von 22 Jahren zum Oberst und drei Jahre später zum Generalmajor. Er zeigte jedoch wenig Interesse an seinem Regiment. Dafür erzählte er gerne darüber und prahlte mit seinem militärischen Wissen. Unter den großpolnischen Adligen galt er als „komischer Pedant und ein Original“. Seine Ehe mit Michalina Raczyńska war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Es kam sehr schnell zu Missverständnissen und Konflikten, verursacht durch den Unterschied im Alter, Charakter und den Vorlieben. Michalina starb sehr jung, bereits vor ihrem 22. Geburtstag. In den sechs Ehejahren brachte sie fünf Kinder zur Welt, von denen nur die zwei Söhne, Edward und Athanasius, überlebten. Nach dem Tod seiner Ehefrau widmete sich Filip gänzlich der strengen Erziehung seiner Kinder – ihre vielseitige Bildung war vielleicht sogar die größte Leistung in seinem Leben. „Das Schicksal schenkte ihm einen erstklassigen Formstoff in Gestalt von zwei begabten, fleißigen und ehrgeizigen Jungen. Sie hatten die väterlichen Erziehungsmethoden gut überstanden und wuchsen zu außergewöhnlichen Menschen heran.“

Edward Raczyński (1786–1845) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Familie und ein „Renaissance-Mensch“, der sich im 19. Jahrhundert für Polen besonders verdient gemacht hat. Nach dem Abschluss seines Bildungsweges und seiner Teilnahme an den Napoleonischen Kriegen (1806–1809) widmete er sich der Umsetzung seiner Jugendträume. Edward unternahm zwei Reisen: die erste in den europäischen Norden, nach Lappland, und eine zweite in den Süden. Die letzte Reise, die in dem herrlich herausgegebenen „Tagebuch einer Reise in die Türkei im Jahre 1814“ dokumentiert wurde, brachte ihm Ruhm und einen festen Platz in der Geschichte der polnischen Reiseliteratur. Nach seiner Rückkehr nach Polen begann er, seine weiteren ungewöhnlichen Ideen zu verwirklichen: Er baute verschiedene Fahrzeuge, organisierte auf einer Seeinsel von Santomischel (Zaniemyśl) seine berühmten „Seeschlachten“ zwischen Flottillen aus kleinen, mit winzigen Kanonen ausgestatteten Schiffen und vieles mehr. Seit den 1920er Jahren erweiterte er kontinuierlich sein soziales Engagement und seine Tätigkeit als Mäzen. Er widmete sich in erster Linie dem Verlagswesen, darunter insbesondere historischen Quellen, den Klassikern der Antike und zeitgenössischen Dichtern. Er finanzierte die Herausgabe von ca. 50 Werken in insgesamt 90 Bänden, darunter den klassischen Werken der polnischen Tagebuchliteratur und Epistolografie, wie die Memoiren von Jan Chryzostom Pasek und die Briefe Königs Johann III. Sobieski an die Königin Marie Casimire d’Arquien. Auch die Stadt Posen hat Edward sehr viel zu verdanken: Er schenkte der Stadt Wasserleitungen, die die hygienischen Verhältnisse Posens verbesserten, und 1829 die erste öffentliche Bibliothek. Für die Volksbücherei ließ er ein herrliches Gebäude am heutigen Plac Wolności errichten, sicherte ihre finanzielle Grundlage und legte ihre Organisationsstruktur fest.

Als sein weiteres bedeutendes Verdienst gilt die Goldene Kapelle in der Posener Kathedrale. Ideengeber und Spiritus movens der Bemühungen um die Entstehung dieses Nationaldenkmals war der Posener Erzbischof Teofil Wolicki. Nach seinem vorzeitigen Tod wurde das Projekt dank der Arbeit Edward Raczyńskis abgeschlossen. Er entwarf die endgültige Form der Kapelle und die vielfältige Gestaltung ihres Inneren. Darüber hinaus spendete er der Kapelle die großartigen Statuen der ersten polnischen Herrscher – Mieszko I. und Bolesław I. –, die von dem Berliner Bildhauer Christian Daniel Rauch angefertigt wurden. Einen wichtigen Platz im Gedächtnis des polnischen Volkes gewann er auch durch seine berühmte Rede, die er 1849 in Königsberg hielt und in der er gegenüber Friedrich Wilhelm IV. das Unrecht und die Verfolgungen aufzählte, denen die Polen in der Provinz Posen ausgesetzt waren. Edwards Rede trug im Wesentlichen zur Entlassung des dortigen Oberpräsidenten Eduard von Flottwell bei, der in der Provinz eine breit angelegte Germanisierungspolitik betrieb. Sein Tod durch Selbstmord am 20. Januar 1845 auf der Seeinsel von Santomischel (Zaniemyśl) verführt zu Spekulationen. Es herrscht die allgemeine Meinung, er hätte sich das Leben infolge scharfer Kritik seiner Landsleute genommen. Kritisiert wurden die Aufschriften unter den Statuen der ersten polnischen Herrscher in der Goldenen Kapelle: „Der Kapelle gespendet von Edward Nałęcz Raczyński.“ Diese Meinung erscheint etwas vereinfacht. Der vielseitigste der polnischen Mäzene des 19. Jahrhunderts nahm sich das Leben nicht nur wegen des genannten Konflikts. Grund dafür waren auch schmerzhafte körperliche Beschwerden und eine genauso schmerzhafte Depression, die ihn seit längerem plagte.

Einen anderen Karriereweg schlug der ebenso ehrgeizige und fleißige Athanasius Raczyński (1788–1874) ein. Nachdem er durch seine Teilnahme an den Napoleonischen Kriegen ein schönes Kapitel in seiner Biografie fertig geschrieben hatte, regelte er seine Vermögensangelegenheiten und gründete aus den geerbten Ländereien in Großpolen das Majoratsgut Obersitzko (Obrzycko, ca. 14.000 Hektar). Anschließend, infolge seiner beharrlichen Bemühungen, wurde er in den preußischen diplomatischen Dienst aufgenommen. Trotz seiner Loyalitätserklärungen hatte die preußische Regierung lange Zeit nicht genügend Vertrauen zu ihm. Aus diesem Grund wurde er erst 1830 zum preußischen Geschäftsträger in Kopenhagen ernannt. Von dort aus beobachtete er aufmerksam den im selben Jahr ausgebrochenen Novemberaufstand, von dem er sich klar distanzierte. Er war von seinen Landsleuten enttäuscht, in der Überzeugung, die rebellischen Neigungen der Polen würden in ganz Europa Unruhe stiften. Die Botschaft in Kopenhagen verließ er aus gesundheitlichen Gründen vier Jahre später. Nach einigen Jahren kehrte er in den diplomatischen Dienst zurück, wurde zuerst preußischer Gesandter in Lissabon (1840–48) und anschließend in Madrid (1848–1852). Gleichzeitig pflegte er seine Vorliebe für Kunstgeschichte und wurde ein hervorragender Kunstkenner. Da er die diesbezügliche Fachliteratur nicht zufriedenstellend fand, schrieb er und veröffentlichte die bis heute geschätzte, dreibändige „Geschichte der neueren deutschen Kunst“ (1836–1841). Während seines Aufenthaltes in Lissabon befasste er sich eingehend mit der portugiesischen Kunst, der er zwei nicht nur in Portugal hoch geschätzte Werke widmete: „Dictionnaire historico-artistique du Portugal“ (Lexikon der portugiesischer Kunstgeschichte, 1847) und „Les arts en Portugal“ (Portugiesische Kunst, 1864). Als Kunstliebhaber und -kenner beschränkte er sich nicht nur auf das Schreiben von Büchern. Seit seiner Jugendzeit sammelte er Gemälde, sodass mit der Zeit eine außergewöhnlich wertvolle Sammlung von Werken der alten Meister und zeitgenössischen Künstler entstehen konnte. Am Anfang beabsichtigte er, seine Sammlung in einem eigens dafür erbauten Gebäude in Posen zu beherbergen, doch letztendlich brachte er sie in Berlin unter, in seinem Palais Unter den Linden. Nach dem Tod Athanasius’ und dem Abriss des Schlosses (an seiner Stelle wurde das Reichstagsgebäude errichtet) wurde die Sammlung in der Nationalgalerie in Berlin ausgestellt. 1903 kam sie in das relativ neu gegründete Kaiser-Friedrich-Museum in Posen, wo sie heute den Hauptteil der Sammlung ausländischer Gemälde des Nationalmuseums bildet.

Edward und Athanasius folgten konsequent den Handlungsgrundsätzen, die ihnen ihr Großvater Kazimierz eingeschärft hatte. In ihrem Dienst für das Vaterland sollten sie in erster Linie der Familie Raczyński Ruhm und Ehre bringen. Beide wurden Väter von Söhnen. Die Ehefrau Athanasius’, Anna Radziwiłł, brachte Sohn Karol Edward zur Welt, und die Ehefrau von Edward, Konstancja Potocka – Sohn Roger Maurycy. Karol Edward Raczyński (1817–1899) bereitete seinem Vater schon im Kindesalter Sorge. Er war ein schlechter Schüler, erst spät machte er das Abitur und schloss ein Hochschulstudium ab. Lange konnte er keinen Fuß fassen, lebte verschwenderisch und kümmerte sich nur wenig um das Majorat in Obersitzko. Karol Edward nahm am öffentlichen Leben nicht teil und starb kinderlos. Sein Cousin Roger Maurycy Raczyński (1820–1864) war wiederum sehr begabt, fantasievoll und ideenreich. Nach einem gründlichen Bildungsweg verbrachte er seine Zeit größtenteils mit Reisen und der Entwicklung seiner Interessen. Da er gegenüber den Ereignissen in Polen nicht gleichgültig war, unterstützte er aktiv den Januaraufstand. Er spendete beträchtliche Summen für die Formierung der aufständischen Einheiten in Großpolen. Als ihm eine Festnahme durch die preußische Polizei drohte, flüchtete er zuerst nach Florenz und anschließend nach Paris, wo er im Februar 1864 verstarb. In seinen jungen Jahren hatte er ein Verhältnis mit der verheiratetet Aristokratin Zenaida Lubomirska, die ihm einen Sohn gebar – Edward Aleksander. Da er sich wünschte, dass das Kind den Namen Raczyński trug, führte er einen riskanten Plan durch. Er fand eine schwindsüchtige Frau – Maria Gottschalk – die einwilligte, unter Eid auszusagen, sie wäre die Mutter seines unehelichen Sohnes. Dann heiratete er die im Sterben begriffene Frau, wodurch seine Vaterschaft rechtlich bestätigt wurde. Dieses Manöver verärgerte Athanasius Raczyński so sehr, dass er seinen Neffen von dem Recht auf die Erbschaft des Majorats in Obersitzko ausschloss. Er änderte den Eintrag im Gründungsakt des Majorats: Im Falle des Todes seines einzigen Sohnes Karol sollte das Gut an den deutsch-kurländischen Familienzweig gehen.

Edward Aleksander (1847–1926) trat also auf ungewöhnlichen Wegen in die Familie Raczyński ein. Sein Status als Familienmitglied wurde erst unanfechtbar rechtskräftig, nachdem er von seinem Onkel Karol Raczyński adoptiert worden war. Edward Aleksander erbte die Fantasie seines Vaters und verließ das Gymnasium, um in die Türkei zu flüchten, wo er der Kosakenbrigade von Sadik Paşa (Michał Czajkowski) beitrat. Nachdem er nach Hause zurückgeholt worden war, bestand er das Abitur und begann das Studium der Rechtswissenschaften in Paris, das er nicht abschloss – sein unruhiges Wesen ließ ihn in den Krieg zur Verteidigung des Kirchenstaates ziehen, in dem er bei der Schlacht bei Mentana dem Tod nur knapp entkommen konnte. Nach der Genesung, zahlreichen Liebesaffären, turbulenten Reisen und gescheiterten Versuchen, mit der Seidenspinnerzucht in Indochina und in den Goldmienen in Chile ein Vermögen zu machen, kehrte er nach Hause zurück, um das stark heruntergekommene Anwesen in Rogalin zu retten. Da er sich dort aus politischen Gründen nicht dauerhaft niederlassen durfte, ging er nach Krakau, wo er sich ausschließlich der Kunst widmete. Im Laufe von einigen Jahrzehnten schuf er eine herrliche Kunstsammlung, die aus circa 500 Gemälden bestand (darunter Werken von Rembrandt, Monet, van Gogh, Jan Matejko und Jacek Malczewski), für die er in Rogalin einen Pavillon errichten ließ. Edward Aleksander war Stammgast im Salon de Paris, darüber hinaus verhinderte er den Abriss des Barbakans und des Florianstors in Krakau. Obwohl er sich bei Frauen großer Beliebtheit erfreute, heiratete er – vermutlich aus finanziellen Gründen – die psychisch kranke Maria Beatrix Krasińska (die Tochter des polnischen Dichters Zygmunt Krasiński), die ihm einen Sohn schenkte: Karol Roger. Nach ihrem Tod ging er eine Ehe mit seiner ersten Liebe ein, Róża Potocka, aus der zwei Söhne hervorgingen: Roger Adam und Edward Aleksander.

Karol Roger Raczyński (1878–1946) bekam von seiner Mutter ein großes Vermögen vererbt, unter anderem das Anwesen Złoty Potok (der Goldene Bach) im Landkreis Tschenstochau und Czemierniki im Landkreis Lubartów (insgesamt 13.600 Hektar). Er wirtschaftete gut und engagierte sich in landwirtschaftlichen Organisationen. Seine größte Leidenschaft galt Automobilrennen im In- und Ausland, an denen er mit wechselndem Erfolg teilnahm. 1909 gehörte er zu den Mitbegründern der Gesellschaft der Automobilfahrer des Königreichs Polen (Towarzystwo Automobilistów Królestwa Polskiego), und im wieder unabhängigen Polen war er mehrmals Vorsitzender des Automobilclubs. Roger Adam Raczyński (1889–1945) genoss eine gute Bildung und erbte von seinem Vater das Gut Rogalin mit anliegenden Ländereien. Nach der Wiedererlangung der polnischen Souveränität trat er in den auswärtigen Dienst ein und begann eine glänzende diplomatische Karriere. Bereits 1918 reiste er an der Seite von Ignacy Paderewski zu den Friedensverhandlungen nach Paris. Einige Jahre später widmete er sich der Verwaltung seiner beträchtlichen Güter. Zwischen 1929 und 1934 regierte er mit großem Engagement als Woiwode von Posen. Danach hatte er das Amt des Staatssekretärs im Landwirtschaftsministerium inne. 1937 kehrte er in den diplomatischen Dienst zurück und wurde erster Botschafter der Polnischen Republik in Rumänien.

Im September 1939 versuchte er, leider ohne Erfolg, die Flucht der polnischen Regierung über Rumänien nach Frankreich zu organisieren. Dafür gelang ihm die heikle Aufgabe, den in Rumänien internierten polnischen Präsidenten Ignacy Mościcki zum Rücktritt zu bewegen und einen Nachfolger zu benennen. Nach der Schließung der polnischen Botschaft in Bukarest ging Roger Adam Raczyński nach London, wo er Gesandter bei der griechischen Regierung wurde, die dort – ähnlich wie die polnische – Zuflucht fand. Nach der Befreiung Griechenlands im Herbst 1944 verlegte er seinen Sitz nach Athen, wo er ein Jahr später infolge eines Herzinfarkts verstarb. Er war mit Helena Rohozińska verheiratet, doch die Ehe blieb kinderlos.

Auch Edward Bernard Raczyński (1891–1993) hinterließ keinen männlichen Nachkommen. Sehr begabt, schloss er seine Bildung mit einem Doktortitel in Rechtswissenschaften an der Jagiellonen-Universität mit Auszeichnung ab. Ähnlich wie sein Bruder Roger widmete er sich der Diplomatie. Er arbeitete als Sekretär der polnischen Botschaft in Kopenhagen (1919–1922) und hatte einen ähnlichen Posten in London (1922–1926), wo er die Bekanntschaft mit Winston Churchill machte, was für den weiteren Verlauf seiner Karriere nicht ohne Einfluss blieb. Anschließend war er im polnischen Außenministerium tätig und 1932 ging er als polnischer Gesandter beim Völkerbund nach Genf. In dieser Tätigkeit fand er Erfüllung, daher begegnete er seiner zwei Jahre später erfolgten Ernennung zum polnischen Botschafter in Großbritannien mit Widerwillen. Nichtsdestotrotz sollte er ausgerechnet in London seine bisher größte politische Rolle spielen. Zunächst trug er zur Verbesserung der damals kühlen polnisch-englischen Beziehungen bei. Ende August 1939 hatte er in London einen Beistandspakt zwischen Polen und Großbritannien unterzeichnet, den England bekanntermaßen nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht erfüllte. Fürsorglich betreute er die polnischen Soldaten in Schottland sowie die polnischen Piloten, die in der Luftschlacht um England das Land der Verbündeten verteidigten. Im Sommer 1944 versuchte er beharrlich den Warschauer Aufständischen Hilfe zukommen zu lassen. Seine letzte Handlung als Botschafter war die Überreichung einer Protesterklärung an die britische Regierung gegen den Entzug der diplomatischen Anerkennung der polnischen Exilregierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete er mehrere polnische Exilinstitutionen in London: das Polnische Institut und das Sikorski-Museum, die Polnische Kulturstiftung und den Hilfsfonds für Polen. Seit 1954 gehörte er zusammen mit dem General Władysław Anders und Tomasz Arciszewski zu dem sogenannten Dreierrat, der kollektiv das Amt des polnischen Präsidenten innehatte. 1979–1986 war er Staatspräsident von Polen im Exil, und in dieser Funktion gewann er in den polnischen Exilkreisen großen Respekt und Anerkennung. Da er keinen männlichen Nachkommen hatte, rief er 1990 die Stiftung der Familie Raczyński am Nationalmuseum in Posen ins Leben, die das Schloss in Rogalin und die darin beherbergte Kunstsammlung der Öffentlichkeit zugänglich machte.

Zum Schluss dieser kurzen Schilderung der Geschichte der Adelsfamilie Raczyński sollte man noch einmal auf ihren deutsch-kurländischen Zweig zurückkommen, an den 1899 – nach dem Willen Athanasius Raczyńskis im Fall von Kinderlosigkeit seines Sohnes Karol – das Majorat in Obersitzko fiel. Etwas später zog der einzige männliche Vertreter dieses Familienzweiges, Zygmunt Edward Raczyński (1861–1937), mit seiner Familie nach Großpolen. Er fühlte sich als Deutscher und identifizierte sich nicht mit der polnischen Tradition der Familie. Er lebte bescheiden und nahm – auch in der Zwischenkriegszeit – am öffentlichen Leben nicht teil, sondern beschränkte sich auf die Unterstützung verschiedener wohltätiger Organisationen. Unter seinen Kindern war sein jüngster Sohn Wilhelm Joseph (1914–1999) eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Gut ausgebildet, befasste er sich bis zum Zweiten Weltkrieg mit wissenschaftlicher Arbeit. Nach Kriegsausbruch wurde er komissarischer Direktor der Raczyński-Bibliothek in Posen und erwies sich als Beschützer der polnischen Sammlung und der polnischen Arbeitsplätze. Er verhinderte die Zerstörung des wertvollsten Teils der Büchersammlung und der Familienporträts, indem er sie nach Obersitzko brachte. 1945 flüchtete er zusammen mit den weiteren Familienmitgliedern in den Westen. In den 1950er und 1960er Jahren leitete er das Goethe-Institut in Santiago de Chile und in Paris. Nach seiner Pensionierung ließ er sich in München nieder.

1965 kam es zu einem außergewöhnlichen Treffen zwischen Wilhelm Joseph und Edward Bernard Raczyński in Paris. Die zwei Vertreter der zwei getrennten und miteinander nur locker verbundenen Linien verwarfen die alten Vorurteile und schlossen eine wahre Freundschaft. Da Edward Raczyński bewusst war, dass mit seinem Tod die großpolnische Familienlinie enden wird, beauftragte er Joseph und die kommenden Generationen der Familie Raczyński aus dem kurländischen Zweig mit der Pflege des Kulturerbes des gesamten Adelsgeschlechts. Diese Aufgabe erfüllte Joseph Raczyński mit großer Hingabe und Erfolg bis zum Ende seines Lebens.

Aus dem Polnischen von Monika Satizabal Niemeyer

Witold Molik

Historiker, Leiter des Historischen Instituts für Polnische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und Direktor des Centrum „Instytut Wielkopolski“ (das Großpolnische Institut) der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen.