Adam Pomorski: Neue Welle des Nationalismus - Über die Entwicklung der politischen Kultur in Mittel- und Osteuropa

Wenn wir über Prozesse in Osteuropa sprechen – Demokratie- und Demokratisierungsprozesse, Modernisierungs- und Transformationsprozesse –, dann beziehen wir uns oftmals auf räumliche Definitionen, wie zum Beispiel den „postsowjetischen Raum“. Der entscheidende Faktor, der diesen Prozessen zugrunde liegt, ist jedoch keineswegs geografischer, sondern zeitlicher Natur. Solche Prozesse, die in einem bestimmten Raum auftreten, können nicht ausschließlich anhand von Landkarten und Traditionen erläutert werden. Sowohl Deutschland als auch Russland neigen dazu, den Raumbegriff sehr ausgedehnt zu gebrauchen.

Es ist vorauszusehen, was gemeint ist, wenn Deutsche über den „Raum“oder auch die Russen – dank ihrer engen Kontakte zur deutschen Kultur – von prostranstwo sprechen. Wenn jedoch die Bezeichnung „postsowjetischer Raum“ herangezogen wird, dann lautet die Frage, welche Subjekte sich selbst dieser Kategorie zuweisen. Die baltischen Staaten beispielsweise scheuen Diskussionen zu diesem Thema, weil sie ihre Zugehörigkeit zum „postsowjetischen Raum“ nicht akzeptieren. Ob man Polen hinzuzählen kann, hängt mit der Frage nach der Identität zusammen. Sollte etwa Ostdeutschland ebenfalls Teil des „postsowjetischen Raumes“ sein? Eine Autorin, die heute in Osteuropa sehr unbeliebt ist – Rosa Luxemburg – hat einmal gesagt, der Kapitalismus in seiner Entwicklung bedürfe einer nichtkapitalistischen Umgebung, da sein Fortschritt sonst nicht mehr expandieren könne. Womöglich verhält es sich mit der Demokratie auf ähnliche Weise und deshalb bergen Versuche, den Demokratisierungsprozess anhand räumlicher Definitionen zu beschreiben, Gefahren in sich. Solch eine Herangehensweise markiert nicht etwa die Grenzen der Demokratie, sondern den nichtdemokratischen Bereich und stellt unweigerlich eine Hürde für den Demokratisierungsprozess dar.

In den Diskussionen über die politische Entwicklung der mittel- und osteuropäischen Staaten ist häufig die Meinung anzutreffen, in diesem Teil der Welt würde ein neuer Nationalismus aufkeimen. Dieses Phänomen kann jedoch in ganz Europa beobachtet werden. Das Problem besteht nicht darin, dass ganz Polen, Russland oder die Ukraine nationalistisch werden. Wir haben es vielmehr mit einer allgemeinen Polarisierung der Gesellschaften zu tun, die während politischer Wahlen in Europa deutlich zum Vorschein kommt – etwa dann, wenn die Wählerschaft in nahezu 50 zu 50 gespalten ist.

Der Nationalismus ist kein spezielles Phänomen Mittel- und Osteuropas (unabhängig vom Grad der Demokratisierung). Es sei ausdrücklich zu betonen, dass es in diesem geografischen Raum, in dem über einhundert Millionen Menschen leben, in den vergangenen zwanzig Jahren gelungen ist, den ethnischen Frieden zu bewahren (den Balkan zähle ich, entgegen der habsburgisch-ungarischen Tradition, nicht zu Mitteleuropa). In Zeiten der Transformation, als es zu tief einschneidenden und katastrophalen Umwälzungen gekommen war – gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen –, gab es eine Menge politische Opfer. Viele fielen mafiösen, autoritären und Polizeiregimen zum Opfer, jedoch wurde kein Tropfen Blut durch ethnisch motivierte Konflikte vergossen. Eindeutig ist der Kontrast zu den postkommunistischen Staaten auf dem Balkan, in Transnistrien – dieser moldawisch-ukrainischen Enklave – im Kaukasus oder Zentralasien. Der ethnische Frieden in Mittel- und Osteuropa stützte sich auf einem klaren bürgerlichen Selbsterhaltungsinstinkt.

Als Beispiel kann die Lage im slowakisch-ungarischen Grenzgebiet im Jahre 1993 angeführt werden, als auf beiden Seiten die Panzer zum Kampf bereit standen. Es fehlte nur ein Funke und es wäre zu einer blutigen Auseinandersetzung gekommen. Beide Seiten waren dennoch in der Lage, sich zurückzuziehen und eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Die orangene Revolution in Kiew kam nicht nur zustande, weil es Wahlfälschungen gegeben hatte und die demokratiehungrige Masse auf die Straße ging, sondern weil sich beide Seiten rechtzeitig aus diesem Konflikt herausgehalten hatten. Die Aufrechterhaltung dieses mitteleuropäischen Selbsterhaltungsfriedens garantiert den Frieden in ganz Europa.

Sicherlich können nationalistische Tendenzen in Russland und der Ukraine wahrgenommen werden, aber dieses Phänomen existiert auch im Westen. Doch alleine schon die Aufteilung Europas in Ost und West, hinter der sich oftmals der Gedanke einer kulturellen Verschiedenheit verbirgt, erscheint wenig überzeugend. Die kulturelle Aufteilung Europas – was insbesondere die Deutschen wissen – verläuft zwischen Nord- und Südeuropa. Die Abgrenzung in Ost und West ist rein politischer Natur. Es existiert keine kulturelle Spaltung auf der Ost-West Achse. Es hat sie nie gegeben – mit Ausnahme des Ost- und Weströmischen Reiches, was jedoch der weit entfernten Vergangenheit angehört.

Das Phänomen, mit dem wir es in ganz Europa zu tun haben, also die aufsteigende Welle des Nationalismus – die mit Sicherheit undemokratische Ziele anstrebt – erinnert doch sehr stark an den alten deutschen Begriff der konservativen Revolution mit all seinem romantisch-modernistischen Erbe. In der Welt der Politik bedeutet dies vor allem, eine Weltanschauung aufzwingen zu wollen – im alten und fatalen Sinn des Begriffes „Weltanschauung“,einer Reihe von monozentrischen Überzeugungen, Assoziationen und Vorstellungen von der Welt, die weder rational begründet noch irgendwelchen Diskussionen unterliegen und sich nicht durch einen Diskurs und Dialog inhaltlich abwägen lassen. Dies ist gleichzusetzen mit der Infragestellung der formalen und rechtsstaatlichen Demokratieform, allgemeinen demokratischen Rechtsprozeduren sowie der Demokratie – verstanden als gemeinschaftlicher, politischer Wille – wie es auch im Namen der größten polnischen Oppositionspartei geschrieben steht, die dem Recht die Gerechtigkeit entgegenstellt. Solch eine Auffassung von Gerechtigkeit kann als Ausdruck eines kollektiven Willens angesehen werden. Auf der Grundlage dieser Anschauung können ebenfalls schnell politische Ziele artikuliert werden und zur Entstehung einer Führung beitragen, die diesen mythischen Kollektivwillen verkörpert.

Wenn – wie in unserem Fall – eine deduktive Herangehensweise die Oberhand über die induktive gewinnt, dann bildet das Gefühl einer potenziellen Ganzheit, bei der angeblich alles seinen Anfang nahm, den Ausgangspunkt. Anschließend nimmt diese Idee eine zunehmend ausgereifte Form an: Am Anfang war die Nation oder ein Kollektiv, aus ihr heraus entstand eine Bewegung, und die lenkende Organisation brachte ihre Anführer hervor, die wiederum den einen Anführer bestimmten, der dieses Kollektiv leiten sollte. Dieser Gedankengang tauchte einmal sowohl in West-, Ost- als auch Mitteleuropa auf.

Forschungsumfragen innerhalb der wahlberechtigten Bevölkerung in den ehemals kommunistischen mittel- und osteuropäischen Staaten haben in den vergangenen zwanzig Jahren gezeigt, dass 20 bis 30 Prozent der Wähler populistischen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Anschauungen zugeneigt sind, bei gleichzeitig starker Ablehnung des Kommunismus. Dieses Ergebnis ist ein Zeichen dafür, wie stark dieser Wähleranteil die Demokratie – die „Volks- oder Nationaldemokratie“ – mit der Forderung nach einer utopischen gesellschaftlichen und ethnozentrischen Solidarität verbindet und nicht etwa mit dem Rechtsstaat. Die gegenwärtige globale Krise ist höchstwahrscheinlich keine Konjunkturkrise, sondern trägt die Merkmale einen langen Zyklus.

Es stellt sich die Frage, ob die Unruhen in Russland, der Belarus und der Ukraine, die sich gegen die politische Führung richten und das System als solches negieren, nicht etwa aus dieser Krise herrühren. Wie dem auch sei, beide Prozesse – die Unruhen und die Krise – wirken sich nicht positiv auf die Demokratieentwicklung in diesen Staaten aus und die Zeit, in der man noch an die Utopie der Transformation und Modernisierung geglaubt hat, ist längst schon vorbei. Die Demonstranten, die in Moskau so zahlreich auf die Straße gegangen sind, haben unweigerlich ein revolutionäres Bewusstsein und die Besonderheit dieser „Revolution“ besteht darin, dass sie konservative Züge annimmt. Diese Bewegung strebt nicht danach, einen Rechtsstaat aufzubauen, sondern ist vielmehr die Ausdruck eines kollektiven Willens, der den repressiven und kriminalisierten Staat verändern möchte. Dies genügt jedoch nicht, um einen demokratischen Staat zu schaffen, was jedoch diese inverse „Karnevalsrevolution“ in Russland ausmacht.

Wenn wir einen anderen Staat in Europa unter die Lupe nehmen – beispielsweise Polen –, dann würde es sich lohnen zu fragen, ob nicht eben jene konservativ-revolutionäre Kollektivvorstellung eine Antwort darauf geben könnte, weshalb es zu solch spektakulären Personalübergängen zwischen schier gegensätzlichen politischen Lagern gekommen ist. Radikale aus dem linken und rechten Spektrum (Publizisten, Intellektuelle, Politiker) wechseln mit Leichtigkeit die Seiten ohne dabei ihre radikalen Ansichten aufzugeben. Der Vektor bleibt der gleiche, es ändert sich nur die Drehrichtung und plötzlich landet der rechtsradikalste Publizist bei der linksliberalsten Zeitschrift und umgekehrt. Auch der jüngste Protest der „ACTAvisten“ gegen das ACTA-Abkommen hat die radikale Linke und Rechte auf der Straße unter den gleichen Losungen vereint und recht schnell den politischen Charakter einer sogenannten direkten Demokratie angenommen. Wenn solche Übergänge derart leicht zu vollbringen sind, dann wäre es anzunehmen, irgendetwas verbinde beide „Weltanschauungspole“ miteinander und vereinfache das hin- und her Rutschen. Dieses Etwas scheint die konservativ-revolutionäre Abneigung gegen die Legalität des demokratischen Systems zu sein.

Ein zweiter Aspekt, der mit der konservativen Revolution zusammenhängt und der in vielen europäischen Staaten beobachtet werden kann, ist die Tendenz zur außersystemischen Opposition, welche die formalen Rahmen demokratischer und oppositioneller Prozesse verlässt und sowohl die Legitimität des gegenwärtigen Systems negiert, als auch deren Form. Dies betrifft ebenfalls Polen, wo die stärkste Oppositionspartei – die Recht und Gerechtigkeit – eine klare Evolution vollzogen hat. Einst hat die Partei die demokratischen Regeln akzeptiert, aber seit längerer Zeit verwandelt sie sich in eine Partei, die die Staatsform und das politische System verbal verneint. Sie bleibt eine Parlamentspartei, geht jedoch auf die Straße, ruft zur Änderung der Verfassung auf und will aus Warschau ein zweites Budapest machen. Gleichzeitig wächst im rechten Spektrum Konkurrenz heran, die sich rund um die nationalistische Bewegung konsolidiert und sich selbst als antidemokratisch und antieuropäisch bezeichnet. Analoge Situationen herrschen auch in vielen anderen Ländern Mittel- und Osteuropas vor. Auch die Demonstranten in Moskau stellen nicht nur die Regierenden infrage, sondern auch die Legitimität des Systems an sich. Ähnlich verhält es sich in der Belarus, Ungarn oder Rumänien. Handelt es sich in diesen Staaten um Demokratie? Es ist vielmehr eine Revolution der Outsider – populistisch, da sie die Institutionen und formalen Prozesse ablehnt; konservativ-revolutionär, weil sie sich selbst als Ausdruck des Kollektivwillens ansieht und sich selbst legitimiert; eine Revolution der Outsider, weil sie die steifen Rahmen des Systems abschafft, das den eigenen Outsidern jeglichen öffentlichen Spielraum verweigert.

Aus dem Polnischen von Arkadiusz Szczepański

Adam Pomorski

Übersetzer aus dem Russischen, Deutschen, Englischen und Ukrainischen, Essayist, und Literaturkritiker, Vizepräsident des polnischen PEN-Clubs.

Vortrag, gehalten bei der Konferenz „Wohin reicht die Demokratie in Europa?“, veranstaltet von dem Europäischen Solidarność-Zentrum (Danzig) und der Stiftung Schloss Neuhardenberg am 6. Dezember 2012.