Eine Agora in der Mitte Europas, Zwanzig Jahre Deutsch-Polnisches Magazin DIALOG

Wenn ich aus den zwanzig Jahrgängen des DIALOG einen Text herausgreifen wollte, der die Philosophie unseres bilateralen Magazins treffend charakterisiert, dann würde ich auf ein Gespräch mit Krzysztof Czy†ewski, dem Leiter der Stiftung "Pogranicze" (Grenzland) in Sejny, aus dem Jahr 2006 verweisen (DIALOG, Nr. 74-75/2006). In diesem unter dem Titel "Dialog der Kulturen" publizierten Interview kritisiert Czy†ewski die in Europa zunehmende Tendenz der Konzentration auf die eigenen kulturellen Wurzeln und die abnehmende Sensibilität für die Wahrnehmung anderer Kulturen. 

"Wir beschränken uns zu oft auf eine der Inseln des Archipels und betonen den Wert einer einzelnen Sprache und kulturellen Identität. Dieser ist natürlich unbestreitbar. Dabei vergessen wir jedoch, dass die Herstellung einer Verbindung zwischen den Inseln des Archipels auch eine Frage der Kultur ist, die uns den Rahmen bietet, um universelle Werte wiederzubeleben. Das werden wir nicht schaffen, wenn wir uns nur auf die Förderung unserer eigenen Kultur im Ausland konzentrieren, worauf sich heute auch weitgehend die kulturelle Zusammenarbeit in Europa beschränkt. Ein anderes Problem ist die Frage des ,Brückenbaus‘, den Europa heute so dringend benötigt. Ohne die Ausbildung einer modernen Schicht von Menschen des Dialogs, die nicht nur engagiert, sondern auch kompetent genug sind, um aus Menschen mit verschiedenen Identitäten eine Gemeinschaft zu bilden, werden sich die düsteren Prophezeiungen von Huntington und Fallaci erfüllen. Die Bedeutung und Haltung dieser Schicht sehe ich heute viel klarer als noch vor einiger Zeit. Sie benötigt sehr viel Zivilcourage und Durchsetzungskraft, um gegen die wachsenden Trennlinien und die immer lauter werdenden populistischen Stimmen bestehen zu können, die zum Krieg der Kulturen aufrufen." 

Czyżewski beanstandet die viel zu starke Konzentration der europäischen Akteure auf Präsentation und Förderung der Kultur ihrer eigenen Heimat, wobei die Begegnung mit dem Anderen in den Hintergrund gerate. Der Kulturexport, so Czyżewski, sei zwar eine wichtige Aufgabe, doch das Ziel, gemeinsame Räume zu erschaffen, verschwinde dabei zunehmend aus dem Blickfeld. "Es reicht nicht aus", so Czyżewski, "Fürsprecher der eigenen Kultur zu sein, wir müssen auch eine Agora schaffen, das heißt ein Forum für den Aufbau einer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft existiert physisch und symbolisch und nimmt Gestalt an auf dem Marktplatz von Sarajewo oder in unserer Weißen Synagoge in Sejny, in der wir zu Allerseelen ein Treffen zum Gedenken an Johannes Paul II. organisiert haben. Dieses Treffen hatte nicht nur ökumenischen, sondern überreligiösen Charakter. Wir hatten Gäste aus verschiedenen Kirchen und religiösen Gemeinschaften eingeladen. Diese Art von Erfahrung fehlt uns im Bereich der Kultur heute sehr, und deshalb wird die Kultur zum Werkzeug in den Händen von Ideologen des Krieges der Kulturen, oder sie wird zu etwas völlig Überflüssigem." 

Initiative der Deutsch-Polnischen Gesellschaften 

Auch das Magazin DIALOG hat sich von Anfang an als eine deutsch-polnische Agora in der Mitte Europas verstanden. Deutsche und Polen sollten auf diesem Forum nicht nur die Chance bekommen, ihre jeweiligen politischen Ansichten und spezifischen kulturellen Erfahrungen dem Nachbarn vorzustellen, sondern auch Verständnis für die Sicht des Anderen zu üben und gemeinsame Standpunkte und Initiativen zu formulieren. 

Gegründet wurde das Magazin DIALOG bereits 1987, in einer in den deutsch-polnischen Beziehungen eher tristen Zeit, als die deutsche Nation noch geteilt war, die sowjetischen Truppen halb Europa besetzt hielten und sich die Volksrepublik Polen in einer tiefen politischen und ökonomischen Krise befand - also keine guten Bedingungen für den Bau einer deutsch-polnischen Agora über die Blockgrenzen hinaus. Initiatoren der (damals nur deutschsprachigen) Zeitschrift waren die Deutsch-Polnischen Gesellschaften. Die meisten von ihnen wurden bereits in den siebziger Jahren als positive Reaktion auf die Ostpolitik Willy Brandts und Walter Scheels gegründet. Brandts Warschau-Besuch im Dezember 1970 hatte ein neues Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen eröffnet. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Warschau führte neben der Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch zu einer Belebung der zwischenmenschlichen Kontakte. Im Rahmen der ersten offiziellen Städtepartnerschaften zwischen der Bundesrepublik und Polen entstanden in Westdeutschland erste Deutsch-Polnische Gesellschaften. Auf der deutschen Seite trugen sie entscheidend zu einer stärkeren Wahrnehmung Polens bei. Ihr humanitäres Engagement, vor allem nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981, vermochte es, das bislang geringe Vertrauen der polnischen Gesellschaft gegenüber den Deutschen zu vertiefen. 

Die Tatsache, dass die kommunistischen Machthaber in Warschau vor allem wirtschaftliche Kontakte zum bundesdeutschen Systemfeind suchten, wirkte sich positiv auf die neue Ostpolitik Bonns nach 1970 sowie auf die Arbeit der deutsch-polnischen Initiativen aus. Nach dem Scheitern des totalitären Herrschaftsmodells im Sowjetblock 1956 versuchten die polnischen Kommunisten, durch Liberalisierungsmaßnahmen die Stabilisierung ihres autoritären Herrschaftssystems zu erreichen. Politisch erhofften sie sich dabei die Unterstützung von breiteren Gesellschaftsgruppen sowie die Verbesserung der ökonomischen Leistungsfähigkeit des Landes. Die diktatorische Monopolstellung der prosowjetischen Einheitspartei im Staat und in der Gesellschaft durfte trotz aller Maßnahmen nicht in Frage gestellt werden. Dieser Prozess der Öffnung lief in Polen von 1956 bis 1989 mit unterschiedlicher Intensität ab, nach kurzen Etappen der Erweiterung der Freiräume folgten massive und blutige Repressionsphasen, zum Teil verbunden mit nationalistischen Kampagnen. 

Nach 1976 entstand in Polen eine breite Opposition von Intellektuellen und Arbeitern gegen die Politik der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), die im Sommer 1980 in landesweiten Streiks die Anerkennung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung durchsetzen konnte. Die freie Arbeitnehmervertretung "Solidarność" vermochte die Schwäche der PVAP zu nutzen und führte 1980/1981 eine Öffnung und Demokratisierung Polens herbei, die das Land nicht nur in den Mittelpunkt des Weltinteresses rückte, sondern auch zu einer stärkeren Verzahnung mit den westlichen Gesellschaften beitrug. Die Bekämpfung der gesellschaftlichen Freiräume nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 konnte die Abwendung der polnischen Gesellschaft von den Machthabern nicht mehr stoppen. Durch ein breites Netz von politischen und kulturellen Aktivitäten im Untergrund bildete sich eine Gegenöffentlichkeit zur offitiellen Propaganda. Die PVAP-Führung um General Jaruzelski musste nach der Verhängung des Kriegsrechts wiederum die Erfahrung machen, welch verheerende Folgen die Einschränkung der Freiheit für die ökonomische Situation hatte. Das Jaruzelski-Regime war Mitte der achtziger Jahre zu einem Umbau des maroden Wirtschaftssystems gezwungen und musste erkennen, dass die ökonomischen Reformen von gesellschaftlichen Fragestellungen nicht abgekoppelt werden konnten. Das führte zu einer erneuten Liberalisierung, die Ende der achtziger Jahre unter anderem Lockerungen im Reiseverkehr sowie innerhalb der Zensur mit sich brachte. Dabei konnte die Entideologisierung des wissenschaftlichen Diskurses, des Journalismus sowie der politischen und historischen Publizistik voranschreiten, was sich auch auf die Wahrnehmung der beiden deutschen Staaten sowie der deutsch-polnischen Beziehungen auswirkte. 

Gesellschaftliches Engagement im deutsch-polnischen Bereich war für viele Westdeutsche in den siebziger und achtziger Jahren die beinahe einzige Möglichkeit des Dialogs zwischen den politischen Machtblöcken. Die Deutsch-Polnischen Gesellschaften repräsentierten vor 1989 somit nicht nur das bilaterale Verhältnis, sie waren vielmehr wichtige Akteure des gesamten Ost-West-Dialogs und erinnerten daran, dass der europäische Einigungsprozess nicht mit dem Aufbau der partnerschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und ihren westeuropäischen Nachbarn abgeschlossen wurde, sondern unvollkommen blieb. Diese gesamteuropäische Haltung führte viele junge Menschen ohne familiären Bezug zu Polen in die Deutsch-Polnischen Gesellschaften. Neben den Sympathisanten der neuen Ostpolitik und des europäischen Dialogs zwischen den Systemblöcken zogen die Deutsch-Polnischen Gesellschaften auch in der Bundesrepublik lebende Polen sowie Deutsche mit familiären Wurzeln im östlichen Europa, also auch viele deutsche Vertriebene, an.

Neue Chancen, neue Partner 

Der Zusammenbruch des Sowjetblocks, die Demokratisierung Polens und die Vereinigung Deutschlands eröffneten nach 1989 neue Perspektiven für die beiden Nationen. Die Idee einer deutsch-polnischen Partnerschaft in der NATO und EU mobilisierte viele Deutsche und Polen. In beiden Ländern entstanden zahlreiche bilaterale Initiativen und auch der DIALOG konnte von der Epoche des Aufbruchs profitieren. Durch neue, nach 1989 in Polen gewachsene Initiativen erfuhren das deutsch-polnische Netzwerk und das Magazin DIALOG eine Erweiterung und geistige Bereicherung. Stellvertretend für diese Initiativen möchte ich zwei besonders hervorheben, die für unsere Arbeit in den letzten Jahren eine wichtige Rolle gespielt haben: ich denke hierbei an die von Robert Traba in Olsztyn (Allenstein) gegründete Kulturgemeinschaft "Borussia" sowie die bereits von mir erwähnte, in Sejny an der polnisch-litauischen Grenze ansässige und von Krzysztof und Małgorzata Czyżewski geleitete Stiftung "Pogranicze".

Zu Recht gelten beide Initiativen in Polen und außerhalb des Landes als zivilgesellschaftliche Modellprojekte im postkommunistischen Europa. Beide Initiativen versuchen in lokalen Gemeinschaften - die infolge von Kriegen, ethnischen Säuberungen und Nationalismus zerstört und kulturell verarmt sind -, durch die Sicherung materiellen und geistigen Erbes sowie Erinnerung an die multikulturelle Vielfalt Mitteleuropas eine von nationalistischen Reflexen befreite, neue kollektive Identität zu etablieren. 

Die "Borussia" ist weit über die Grenzen Allensteins vor allem durch ihre Zeitschrift und Buchpublikationen zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte bekannt geworden. Eine zentrale Rolle in der Arbeit dieses Vereins spielt jedoch die Fortbildung von Pädagogen sowie die Vermittlung von Lokal- und Regionalgeschichte an junge Menschen. Die Stiftung "Pogranicze" wiederum hat in Sejny eine umfangreiche Dokumentation über die Multikulturalität Mitteleuropas, bestehend aus Büchern verschiedener Sprachen, Filmen, Tondokumenten, Fotos und alten Postkarten, aufgebaut. Das Haus steht allen in- und ausländischen Forschern offen, die beispielsweise über die Geschichte des polnischen Judentums oder mitteleuropäischer Zigeuner forschen wollen. Seit Beginn der neunziger Jahre organisiert die "Pogranicze"-Stiftung in der Weißen Synagoge internationale Schriftstellertreffen, führt wissenschaftliche Colloquien über die Geschichte Mitteleuropas und ihrer Kulturregion durch. Über die Grenzen der Region und Polens hinaus wurde die Stiftung im Jahre 2000 bekannt, als sie das Buch "Nachbarn" des amerikanisch-polnischen Soziologen Jan Tomasz Gross über das Pogrom an Juden im nordostpolnischen Städtchen Jedwabne von 1941 veröffentlichte. Das Buch von Gross, ein längerer Essay über die Vernichtung der polnischen Juden durch die deutschen Einsatzgruppen zu Beginn des Russlandfeldzuges und die Verwicklung polnischer Zivilisten, löste die intensivste Geschichts- und Identitätsdebatte in Polen nach 1989 aus. 

Das Besondere, ja das Neue an der Arbeit der "Borussia" und der Stiftung "Pogranicze" ist, dass sie zwei Ebenen gleichzeitig im Blick haben: sie wirken in die überschaubare, lokale Gemeinschaft hinein und versuchen außerdem überregionale, kulturelle Netzwerke zwischen den polnischen Akteuren sowie den europäischen Nationen aufzubauen. 

Ein Teil des neuen Netzwerks zivilgesellschaftlich Handelnder in Polen, die sich für geistige Horizonterweiterungen und die Festigung der Demokratie engagieren, ist auch die Danziger Zeitschrift "Przegląd Polityczny". Die Redaktion der Zeitschrift ist seit Mitte der neunziger Jahre offizieller polnischer Partner des DIALOG. Gegründet wurde "Przegląd Polityczny" 1983 von den Danziger Historikern Donald Tusk und Wojciech Duda, die der Solidarność-Bewegung nahe standen. Vor der Wende erschien das Blatt im Untergrund und befasste sich vor allem mit politischen und wirtschaftlichen Fragen. Zum Autorenkreis von "Przegląd Polityczny" zählten in den achtziger Jahren interessanterweise auch Lech und Jarosław Kaczyński, heute politische Kontrahenten des polnischen Premierministers Donald Tusk. Landesweit bekannt wurde "Przegląd Polityczny" nach 1989 als Sprachrohr der Danziger Liberalen. 

Mitte der neunziger Jahre traten tagespolitische Themen immer mehr in den Hintergrund, literarische, philosophische sowie historische Texte prägten fortan ihr Profil und machten sie zu einer renommierten Kulturzeitschrift. Breiten Raum nahmen in "Przegląd Polityczny" vor allem Essays zur Auseinandersetzung mit dem Erbe des Zeitalters totalitärer Regimes, zum Umgang mit der NS-Vergangenheit und der kommunistischen Vergangenheit in Deutschland, Polen und Europa ein. Zu einem wichtigen Thema wurde auch das multikulturelle, vor allem das deutsche Erbe Danzigs. "Przegląd Polityczny" ist eine der letzten Zeitschriften des antikommunistischen Untergrunds, die heute noch in Polen erscheinen. Die von Wojciech Duda geleitete Zeitschrift spiegelt die kulturelle und politische Atmosphäre im heutigen Danzig gut wider. Danzig ist nach 1989 zu einem Ort lebhafter Diskussionen zwischen Polen und Deutschen geworden. Diese neue Danziger Kultur der Erinnerung und des Gesprächs versuchte die Redaktion des DIALOG in zwei Danzig-Schwerpunktheften 1997 und 2007 einer breiteren Öffentlichkeit in den beiden Ländern nahe zu bringen. 

Erinnerung an die multikulturelle Vielfalt Mitteleuropas 

Nicht nur in Danzig, auch in Allenstein, Stettin, Bromberg, Posen, Gleiwitz oder Breslau haben nach 1989 polnische Bürger eine intensive Auseinandersetzung mit dem multikulturellen, vor allem deutschen, Kulturerbe angestoßen und dabei auch den Kontakt mit den Nachbarn gesucht. Diese Entwicklung hat DIALOG in vielfältiger Weise begleitet. Wir haben die Arbeit der lokalen Initiativen dokumentiert, mit ihnen zusammengearbeitet und im DIALOG ein überregionales Forum geschaffen, um Geschichte und Gegenwart der historischen deutsch-polnischen Grenzgebiete zu erörtern. 

Doch im DIALOG werden nicht nur umstrittene Ereignisse der Geschichte der deutsch-polnischen Nachbarschaft diskutiert (Preußen, Zweiter Weltkrieg, ethnische Säuberungen, Vertreibungen, deutscher und polnischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus), die Geschichte schafft in unserem Magazin die Grundlage für die Auseinandersetzung mit Fragen der Gegenwart und Zukunft - gemäß den im DIALOG veröffentlichten Worten Richard von Weizsäckers "Wer die Erinnerung nicht hat, der verliert die Orientierung für die Zukunft" (DIALOG, Nr. 71/2005). 

Den Schwerpunkt bilden im DIALOG vor allem Reflexionen und Diskussionen zur aktuellen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen. In den achtziger Jahren war DIALOG ein einsamer deutsch-polnischer Informationsvermittler. Die neunziger Jahre brachten zwar neue Chancen und eine enorme Belebung des bilateralen Verhältnisses, doch schnell wandte sich die Mehrheit beider Gesellschaften von europäischen Fragen ab, man befasste sich in polnischen und deutschen Medien mit sich selbst, vor allem mit den Schwierigkeiten der Transformation, DIALOG konnte ohne größere Konkurrenz seine Rolle des Informations- und Kulturmittlers wahrnehmen. Das hat sich spätestens nach der EU-Osterweiterung grundsätzlich verändert. Durch die während des Irak-Kriegs und der EU-Verfassungsdebatte sichtbar gewordenen Meinungsunterschiede zwischen beiden Ländern sind die Medien für die deutsch-polnischen Beziehungen sensibilisiert worden. Deutsche und polnische Zeitungsleser, Internetnutzer und Radiohörer können sich gut über die aktuellen Entwicklungen in beiden Ländern und über bilaterale Fragen informieren. Nicht Informationsvermittlung steht heute im Mittelpunkt unserer Redaktionsarbeit, sondern Perspektiverweiterung. Wir beobachten intensiv die Medienberichterstattung und versuchen, neue Themen in die deutsch-polnische Debatte einzubringen oder in den populären Medien oberflächlich behandelte Themen zu vertiefen. 

Europäischer Kontext 

Die im DIALOG veröffentlichten Beiträge beschränkten sich nicht auf die deutsch-polnische Perspektive. Der Historiker Karl Schlögel wies darauf hin, dass sich mit der Erweiterung der EU auch eine kulturelle Erweiterung des Horizonts ereignete (DIALOG, Nr. 71 /2005). In der bisherigen EU sei angekommen, dass die ostmitteleuropäischen Staaten ein Teil Europas sind, was bislang nicht selbstverständlich gewesen sei. Das bedeute nicht, so Schlögel, die vollständige Beseitigung der alten Asymmetrie der Wahrnehmung, denn die Teilung des Kontinents sei eine gravierende Erfahrung gewesen. Doch langsam entstünde ein neuer Wahrnehmungshorizont. An dessen Erweiterung ist auch unsere Redaktion interessiert. Wir beteiligen uns an diesem Prozess, indem wir deutsch-polnische Themen in einen breiteren Kontext der politischen und kulturellen Umgestaltung Europas stellen. Als Beispiele hierfür möchte ich etwa die Schwerpunktausgaben zur Zusammenarbeit im Ostseeraum, zur kulturellen Identität Europas oder zum deutsch-tschechisch-polnischen Verhältnis und der polnisch-ukrainischen Nachbarschaft nennen. Mit dem ukrainischen Journalisten Olexandr Krywenko tauschten wir uns im Jahr 2002 über das Projekt einer polnisch-ukrainischen Zeitschrift aus. Doch der renommierte Kritiker des Kutschma-Regimes kam am 3. April 2003 unter ungeklärten Umständen bei einem Autounfall ums Leben. Er konnte den politischen Sieg der demokratischen Opposition nicht mehr erleben und die Idee eines polnisch-ukrainischen Magazins nicht mehr verwirklichen. 

Die Kultur des Dialogs und Initiativen zum Aufbau einer deutsch-polnischen Agora fanden in den letzen Jahren nicht nur Zustimmung und Unterstützung. Die deutsch-polnischen Differenzen wurden von einigen Politikern und Publizisten in beiden Ländern für die innenpolitische Auseinandersetzung missbraucht. In beiden Gesellschaften waren in den letzten Jahren Stimmen vernehmbar, die den Prozess der europäischen Integration als einen brutalen Kampf um die Durchsetzung nationaler Interessen auffassten, bei dem es wichtiger sei, eigene Positionen konsequent zu vertreten, als Verständnis für den Nachbarn zu zeigen. Sicherlich, innerhalb des vereinten Europas werden partikulare, nationale Interessen nicht verschwinden, doch eine gemeinschaftliche Europäische Union ist der einzige Ort für Konfliktlösungen. Diese Gemeinschaft und ihre Lösungsmechanismen für durch einzelstaatliche Interessen hervorgerufene Konflikte können nur dann effektiv funktionieren, wenn Deutsche, Polen sowie andere Europäer lernen, dass nicht Konfrontation, sondern Vertrauen die Basis für unser Zusammenleben sein sollte, und dass wir nur gemeinsam mehr für unsere Nationen erreichen. 

Ich habe eingangs auf das DIALOG-Gespräch mit Krzysztof Czyżewski hingewiesen. Ebenfalls von großer Bedeutung für unsere Redaktion ist der Essay "Die Begegnung mit dem Anderen als Herausforderung des 21. Jahrhunderts" von Ryszard Kapuściński (DIALOG, Nr. 69-70 /2005). Es ist ein Plädoyer für die Kultur des Dialogs zwischen den Kulturen. Der im Januar 2007 verstorbene polnische Kosmopolit wusste sehr wohl, wie tief in der menschlichen Psyche die Scheu vor dem Fremden verwurzelt, wie "natürlich" die Abgrenzung, der Schutz vor dem Fremden ist. Kapuściński erinnerte uns jedoch immer wieder daran, dass der Respekt vor dem Anderen, die ethische Verpflichtung zu Annäherung und Offenheit und die Verständigung mit dem Fremden zu den wertvollsten kulturellen Errungenschaften der Menschheit zählen, denn nur diese Kultur stiftet Frieden: "Wir werden in dieser Welt immer wieder einen neuen Anderen treffen, der aus dem Chaos und Durcheinander der Gegenwart allmählich Gestalt annimmt. Möglicherweise wird dieser Andere aus dem Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Tendenzen entstehen, die die Kultur der Welt von heute ausmachen: zum einen aus der Globalisierung, die unsere gesamte Realität erfasst, zum anderen aus einer Gegenbewegung dazu, die unsere Eigenheiten, unsere Unterschiede, unsere Einzigartigkeit bewahrt. Möglicherweise wird der neue Andere Ergebnis und Erbe dieses Aufeinandertreffens sein. Wir sollten mit dem Anderen den Dialog und die Verständigung suchen. Die jahrelange Erfahrung der Begegnung mit fernen Anderen hat mich gelehrt, dass nur die Freundlichkeit gegenüber dem anderen Wesen in diesem die Saite der Menschlichkeit zum Klingen bringt." 

Basil Kerski 
Chefredakteur des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG.