Avantgarde der Versöhnung

Über den Briefwechsel der Bischöfe und die Ostdenkschrift des EKD von 1965

"Wenn dieser Text uns durch Deutschland nach Europa und in die zivilisierte Welt führen soll, dann nur in dieser Form." So antwortete der Hauptautor des polnischen Bischofsbriefes, Erzbischof Bolesław Kominek, auf die Bedenken seines Sekretärs, der Inhalt des Schreibens sei zu radikal. Die Worte Komineks sind nicht das einzige Indiz dafür, was sowohl der polnische Parteichef Władysław Gomułka, als auch Vertreter des polnischen Exils gleich nach der Veröffentlichung des Briefes erkannten: Die darin bekundete Versöhnung mit den Deutschen war nicht das einzige Ziel, das die polnischen Bischöfe mit dieser Initiative verfolgten. Mit der deutsch-polnischen Aussöhnung sollte der Weg der Befreiung ihrer Heimat von der sowjetischen Vorherrschaft hin zur Rückkehr Polens nach Europa eingeschlagen werden. 

Die Angst der nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges traumatisierten polnischen Bevölkerung vor den Deutschen begünstigte die Herrschaft des kommunistischen Regimes. Im Vergleich zur Neuauflage einer möglichen deutschen Besatzung erschien der polnischen Gesellschaft die Abhängigkeit von der Sowjetunion als ein geringeres Übel. Das wussten die Kommunisten. Ganz bewusst stellten sie sich selbst und die Sowjetunion als Garanten für die Sicherheit Polens dar. Gleichzeitig vertieften sie mit Hilfe ihrer Propaganda die antideutschen Phobien in Polen, indem sie die Bundesrepublik zu einem revanchistischen Staat hochstilisierten. Die unversöhnliche Polenpolitik der Bundesrepublik erleichterte diese Propagandapolitik. 

Die deutsche Karte spielten die Kommunisten auch gegen ihren gefährlichsten Widersacher - die katholische Kirche - aus. Immer wieder beschuldigte das Regime die polnischen Bischöfe, die Staatsräson zugunsten Deutschlands zu verraten. Ihre Angriffe erleichterte die Weigerung des Vatikans, die Kirchenverhältnisse in den Oder-Neiße-Gebieten noch vor der endgültigen Klärung der politischen Zukunft dieser Gebiete zu regeln. Das sowjettreue Regime erklärte diesen Umstand als eine fundamentale Bedrohung für die polnische Staatsräson und diffamierte die Bischöfe, die dem Papst trotz Meinungsunterschiede die Treue hielten, als Landesverräter. 

Für die polnische Kirche war die Oder-Neiße-Frage die Achillesferse im Kampf gegen die Kommunisten. Grundsätzlich war es für die Machthaber sehr schwer, die fromme polnische Bevölkerung von der Kirche zu entfremden. Es war aber zu befürchten, dass ausgerechnet die Ausnutzung der antideutschen Phobien nicht wirkungslos bleiben würde. Zudem waren die polnischen Kirchenstrukturen in den Oder-Neiße-Gebieten wegen der Haltung des Vatikans schwach, instabil, und daher viel leichter zu bekämpfen als im restlichen Polen. 

Vor diesem Hintergrund sahen die polnischen Bischöfe ihren Brief an die deutschen Amtsbrüder nicht nur als ihre christliche Pflicht, sondern auch als eine Chance, Prozesse in Gang zu bringen, die grundlegende politische Veränderungen in Europa bewirken würden. Eine Voraussetzung dafür war die, dank der kompromisslosen Befolgung der Weisungen des Evangeliums, zu erzielende Verwandlung der zerstrittenen deutschen und polnischen Katholiken in eine Avantgarde der Versöhnung. 

Die Überwindung des Konflikts in eigenen Reihen durfte aber nur der erste Schritt sein. Den zweiten Schritt sollten dann vor allem die deutschen Katholiken vollziehen. Von den katholischen Brückenköpfen der Versöhnung sollte nämlich Einfluss auf die Mitbürger und Politiker ausgeübt werden, damit endlich ein politischer Rahmen entstehen könnte, der die gegenseitigen Beziehungen von Rivalität und Angst befreit und deshalb eine dauerhaft versöhnliche Nachbarschaft ermöglicht. Konkret erwarteten die Briefautoren, dass dank der deutschen Kirche zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik kommen würde. Dadurch verschwände für die Polen das deutsche Schreckgespenst, für die Kommunisten das wirksame Disziplinierungsinstrument der Gesellschaft und für die polnische Kirche - die Achillesferse der Oder-Neiße-Gebiete. Das Kräfteverhältnis im Ringen zwischen dem Kommunismus und Polen, dem "letzten Bollwerk des Katholizismus im Osten" (Primas Stefan Wyszyński), wäre deutlich zugunsten des letzteren verschoben. 

Die Rechnung der polnischen Bischöfe ging jedoch nicht auf. Sie hatten sowohl die Reaktionen der kommunistischen Machthaber, des polnischen Kirchenvolkes als auch der deutschen Amtsbrüder falsch eingeschätzt. 

Die polnischen Bischöfe wussten, dass trotz der intensiv laufenden antiwestdeutschen Propaganda Gomułka an einer Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik interessiert war. Die Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR hielt der polnische KP-Chef für nicht langfristig ausreichend und strebte einen Dialog mit Bonn an. Da der Brief einen Impuls zur Lösung der Grenzfrage auslösen sollte, erhofften die Bischöfe, dass diese Initiative von den Machthabern außenpolitisch konstruktiv verwertet werden würde. Diese Hoffnung erwies sich aber als trügerisch. Gomułka war so sehr auf den Kampf mit der Kirche fixiert, dass er die Initiative des Episkopats nur als Chance verstand, die Bischöfe in den Augen der polnischen Gesellschaft zu diskreditieren. 

Die Partei entfachte die heftigste antikirchliche Kampagne in der Geschichte der Volksrepublik, abgesehen von der stalinistischen Verfolgung. Gelitten hat darunter die Kirche, aber auch die Briefidee. Die polnischen Bischöfe, das Schlimmste befürchtend, bemühten sich nämlich um Schadensbegrenzung und verabschiedeten sich von dem kompromisslos christlichen Weg zur Lösung des deutsch-polnischen Konflikts, den sie in dem Brief aufgeschlagen hatten. Sie schwächten die Aussage "wir vergeben" durch relativierende Zusätze ab und nahmen die Aussage "wir bitten um Vergebung" gänzlich zurück. Als sich die Niederlage der kommunistischen Offensive abzeichnete, kehrte Kardinal Wyszyński zwar zum ursprünglichen Vergebungsangebot des Briefes zurück, indem er die polnischen Katholiken auf beeindruckende Weise zur Vergebung aufforderte. Da er jedoch gleichzeitig die Bitte um Vergebung verschwieg, muss man konstatieren, dass die polnische Kirche zu der ursprünglichen Radikalität der Schlüsselformel des Briefes nur zur Hälfte zurückkehrte, dazu noch zu der weniger revolutionären Hälfte. 

Die Abkehr der polnischen Bischöfe von der Vergebungsformel war aber nicht nur durch die Haltung der Kommunisten bedingt. Von großer Bedeutung war auch die Tatsache, dass der Brief die erste Aktivität des Episkopats bildete, die seit dem Ende des Stalinismus von den polnischen Priestern und Laien überwiegend mit Ablehnung aufgenommen worden war. Eben deshalb war die antikirchliche Offensive der Kommunisten so brisant für die Kirche: Die Gefahr, dass es zum ersten Mal gelingen könnte, einen Keil zwischen den Episkopat und das Kirchenvolk zu schlagen, wurde real. 

Die polnischen Katholiken waren 1965 in tief verwurzelten antideutschen Ressentiments befangen. Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg waren noch sehr lebendig, und die kommunistische Propaganda sowie die Polenpolitik der Bundesrepublik sorgten dafür, dass die Wunden nicht verheilten. Für die meisten Polen stand außer Zweifel, dass die Deutschen für die Polen Tausend Jahre lang eine tödliche Bedrohung waren, und dass deutsche Täter polnischen Opfern immer wieder unermessliches Leid zugefügt hatten, niemals umgekehrt. In dem Bischofsbrief war aber von den deutschen Verdiensten für die Christianisierung und Europäisierung Polens im Mittelalter die Rede. Und von dem Leid der deutschen Vertriebenen. Den in der polnischen Wahrnehmung immer noch "böswilligen" Deutschen vergab man nicht nur ihre ungesühnten Verbrechen, sondern man bat sie sogar um Vergebung im Namen der "unschuldigen" Polen. Ist es verwunderlich, dass der Bischofsbrief Fassungslosigkeit und Entsetzen hervorrief? 

Eine Frage bleibt offen: wie es denn möglich war, dass solch scharfsinnige Kirchenmänner wie Wyszyński oder Kominek die Gemütslage der polnischen Katholiken nicht genügend berücksichtigt und mitkalkuliert hatten. Unterschätzten sie die Tatsache, dass sie nach drei Jahren des Konzils und zahlreichen Begegnungen mit den deutschen Amtsbrüdern einen anderen Bezug zu den deutsch-polnischen Fragen hatten, als die hinter dem Eisernen Vorhang bleibende polnische Bevölkerung? Oder unterschätzten sie einfach die "Basis" als Faktor des Kirchenlebens? Bezeichnend ist, dass die Briefautoren die in Rom weilenden führenden polnischen Laien weder informierten, noch konsultierten. 

Die dritte Fehleinschätzung der polnischen Bischöfe betraf die Weitsichtigkeit und Versöhnungsbereitschaft der deutschen Bischöfe. Der Umgang der deutschen Kirche mit deutsch-polnischen Beziehungen war nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst wenig konstruktiv. Erst seit 1960 fanden einige schüchterne Annäherungsinitiativen der deutschen Bischöfe statt, doch es fehlte ihnen an moralischer Größe und Symbolkraft, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges notwendig waren, um eine Wende herbeizuschaffen. Diese moralische Größe und Symbolkraft demonstrierten die polnischen Bischöfe, indem sie vergaben und um Vergebung baten. Das war mehr als eine Geste, das war eine Forderung an die polnische Gesellschaft, einen Paradigmenwechsel im Umgang mit den Deutschen zu vollziehen - sich von der einseitigen Opferrolle, von dem extrem negativen Deutschenbild und von der eigenen Unversöhnlichkeit zu verabschieden. Es war zugleich geradezu ein Anschlag auf die Bestrebungen und Interessen des kommunistischen Regimes. 

Einen ähnlichen Mut fanden die deutschen Bischöfe nicht. Ein Paradigmenwechsel auf der deutschen Seite hieße: ein anderer Umgang mit der Oder-Neiße-Frage. Dies einzufordern würde bedeuten, scharfe Proteste vieler deutschen Katholiken hervorzurufen und die guten Beziehungen zu den CDU-Politikern aufs Spiel zu setzen. Dazu waren die deutschen Bischöfe nicht bereit, und deshalb kam dem bahnbrechenden polnischen Vorstoß keine bahnbrechende deutsche Antwort nach. Deswegen folgte der Initiative, die "über die moralische Reife der polnischen Katholiken weit hinaus" ging, eine Reaktion, die "den moralischen Reifegrad der deutschen Katholiken" widerspiegelte (Władysław Bartoszewski). 

Vielleicht hätten die deutschen Bischöfe anders reagiert, wenn sie die fast utopische Reichweite der polnischen Briefidee erkannt hätten. Das war aber nicht der Fall. "Dass über Polen das kommunistische Osteuropa aufgebrochen werden konnte, dass man damit an den Grundfesten des kommunistischen Systems würde rütteln können, das hat man erst später erkannt", sagte im Nachhinein ein prominenter deutscher Laie. Und vielleicht deswegen blieb die Oder-Neiße-Frage noch jahrelang der Stolperstein der deutsch-polnischen Bischofsbeziehungen. Nicht nach dem Briefwechsel von 1965, sondern erst nach der Ratifizierung des Warschauer Vertrages (1972), als die Grenzfrage gelöst wurde, endete die Eiszeit im Verhältnis der Bischöfe. Aus diesem Grund bewerteten die polnischen Briefautoren ihre Initiative als Niederlage. 

Nicht die deutschen katholischen Bischöfe, sondern die evangelische Kirchenleitung mit der EKD-Ostdenkschrift und die SPD-FDP-Koalition mit der neuen Ostpolitik forderten den Paradigmenwechsel der deutschen Gesellschaft in Bezug auf die deutsch-polnischen Beziehungen ein. Und nicht die Bischöfe, sondern der Kanzler Willy Brandt fand mit seinem Warschauer Kniefall eine Geste, die eine ähnliche moralische Größe und Symbolkraft hatte, wie die Formel "wir vergeben und bitten um Vergebung". Die katholische Kirche erwies sich als nicht fähig, die politische Hauptursache des deutsch-polnischen Konflikts zu entschärfen. Die Lösung der Grenzfrage war "die Konsequenz des Vertrages und nicht - wie Wyszyński und Kominek gehofft hatten - eines kirchlichen Versöhnungsaktes" (Hansjakob Stehle). Mit Wehmut konstatierte später Primas Wyszyński: "Von den Deutschen erhielten wir alles, was wir wollten, aber nicht von denen, von denen wir es wollten." 

Dennoch erwies sich die Briefidee langfristig als ein großer Erfolg. Es war zwar kein Durchbruch, aber sehr wohl eine Initialzündung für einen langen Abschied vieler deutscher und polnischer Katholiken von ihren Vorurteilen und Ressentiments. Der Brief bewog die deutsche Kirche zwar nicht zur Befürwortung der Oder-Neiße-Grenze, trug aber wesentlich zum Mentalitätswandel der deutschen Gesellschaft bei, der wiederum die Grenzanerkennung durch die Bundesregierung ermöglichte. Die deutsche Kirche zeigte sich zwar als nicht bereit, für politische Grundlagen der Versöhnung einzutreten, aber ihr sonstiger Beitrag zur Überwindung der Verfeindung war enorm. Wegen der Turbulenzen blieb schon bald von der bahnbrechenden Schlüsselformel "wir vergeben und bitten um Vergebung" nur die Hälfte übrig, aber für die damaligen Verhältnisse war selbst das schon sehr viel. Dasselbe gilt für den Briefwechsel insgesamt: Man erreichte nur einen Teil dessen, was man erreichen wollte, aber es war keineswegs wenig. 

Im Jahre 2005 koexistieren das wiedervereinigte Deutschland und das freie, unabhängige Polen im vereinigten Europa. Vor vierzig Jahren ergriffen die polnischen Bischöfe ungeachtet der politischen Realitäten die Initiative, um die Grundlagen für die deutsch-polnische Freundschaft und zugleich für die Niederlage des Kommunismus zu erschaffen. Nicht umsonst nannte der polnische Intellektuelle Jan Józef Lipski den Bischofsbrief die "Tat der polnischen Nachkriegsgeschichte mit der größten Weitsicht". 

Robert Żurek 
Historiker, lebt in Berlin, Autor des Buches "Zwischen Nationalismus und Versöhnung. Die Kirchen und die deutsch-polnischen Beziehungen 1945-1956" (Köln, Böhlau Verlag 2005).