Leseprobe Ausgabe 109: Robert Ostaszewski

Grafik: Wiesław Smętek
Grafik: Wiesław Smętek

Gesegnete Vielfalt oder Der Krimiboom in der neuesten polnischen Prosa

Die Skandinavier herrschen weiterhin in Europa. Besonders, wenn es um Kriminalromane geht. Fortwährend nicht nachlassender Popularität erfreuen sich die Bücher Stieg Larssons, Camilla Läckbergs, Henning Mankells oder Jo Nesbøs. Aber schon bald könnte sich das ändern. Im letzten Jahrzehnt hat sich die polnische Krimiprosa äußerst lebhaft entwickelt, Jahr für Jahr werden über hundert neue Titel veröffentlicht. Es hat sich mittlerweile bereits eine starke Spitzengruppe sehr guter, interessanter Autoren herausgebildet, die sich eines immer größeren Interesses ausländischer Journalisten und Verleger erfreut. Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass der Krimi in Polen praktisch nicht existierte.

Von Null auf Hundert

Im Laufe von gerade einmal etwas mehr als zehn Jahren hat der polnische Krimi den Weg „von Null auf Hundert“ genommen. Noch zu Beginn des Jahrhunderts begann und endete die einheimische Prosa mit dem Thema Verbrechen praktisch mit der Nestorin Joanna Chmielewska. Es reicht zu sagen, man könnte damals die im Laufe eines Jahres erschienenen Krimis ganz ruhig an den Fingern einer Hand abzählen. Was hat nun diese plötzliche und für viele Literaturkenner unerwartete Renaissance dieser Gattung verursacht?

Es geschah aus einer glücklichen Verkettung verschiedener Umstände und Faktoren heraus. Im Jahre 2003 rief eine Gruppe von Fans, die unter anderem aus Marcin Baran, Irek Grin und Marcin Świetlicki bestand, den „Verein der Freunde des Krimis und des Action-Romans ʻLeiche im Schrankʼ“ ins Leben, dessen Ziel es war, Action-Prosa und Kriminalromane populärer zu machen. Im Jahr darauf wurde in Krakau zum ersten Mal ein Krimi-Festival veranstaltet (das seit 2009 unter dem Namen Internationales Krimifestival fungiert und in Breslau stattfindet), in dessen Rahmen der Preis des „Großen Kalibers“ für den besten polnischen Kriminal-/Action-Roman des Jahres verliehen wird. Der erste Preisträger war Marek Krajewski, Verfasser eines Bestsellerzyklus mit dem Polizisten Eberhard Mock im deutschen Breslau. Nach dem Ende dieser Reihe eröffnete er eine Serie mit Kommissar Popielski im polnischen Lemberg. Krajewski, genau … Die Rolle dieses Autors aus Breslau bei der Erneuerung des polnischen Krimis kann gar nicht überschätzt werden. Krajewski hatte als erster Krimiautor nach dem Jahr 2000 auch kommerziellen Erfolg und wurde zudem nicht nur von den Anhängern der Gattung entdeckt, wovon die Tatsache zeugt, dass ihm im Jahr 2005 der prestigeträchtige Paszport-Preis der Wochenzeitung „Polityka“ zuerkannt wurde.

Allmählich änderte sich sowohl die Haltung der Leser als auch die der Literaturkritiker zur Krimiprosa. Lange Zeit galt in Polen das Lesen von Krimis als verschämter Lesezeitvertreib, mit dem man eher nicht über die Maßen prahlen sollte. Von Jahr zu Jahr begannen aber immer mehr Menschen, Kriminalromane nicht nur als Geschichten über Verbrechen wahrzunehmen, die in der Art von Trivialliteratur geschrieben werden, sondern einfach als gute Literatur. Zu dieser eigentümlichen Interpretationswende hat in beträchtlichem Maße die wachsende Popularität des skandinavischen Modells der Krimiprosa beigetragen, in der – zusammenfassend gesagt – die Muster der Gattung eng mit Elementen des Gesellschafts-, Sitten- und politischen Romans verbunden werden. Zudem hat sich eine größere Gruppe von Schriftstellern, die früher diese Art Prosa ignoriert haben, nun für Krimis interessiert (die Rede ist hier von solchen Schriftstellern des Mainstreams wie Olga Tokarczuk oder Michał Witkowski) und sie auf interessante Weise mit anderen Romanvarianten verknüpft. Auf diese Weise wurde das Genre zusätzlich geadelt und gleichsam in die literarischen Salons eingeführt. Es brach die Zeit des Krimibooms in Polen an, und die der Krimivielfalt.

Gesegnete Vielfalt

Die skandinavische Krimiprosa, die von mir in diesem Text als Bezugspunkt genommen wird, stellt eine stilistisch-thematische Monokultur dar, die von einer Sorte Krimi vollständig dominiert wird: dem gegenwartsbezogenen mit gesellschaftlichem, sittenbezogenem und politischem Schmiss. Bei den polnischen Krimis ist es dagegen ganz anders: Die Autoren schöpfen aus verschiedenen Traditionen und Krimiuntergattungen. Zumindest zu Beginn der Krimirenaissance schien es so, als ob auch in Polen ganz klar nur ein Prosamodell „herrschen“ würde: der Retro-Krimi. Darüber konnte man sich schwerlich wundern, denn nach dem Erfolg der Bücher Krajewskis beschloss eine beträchtliche Gruppe von Schriftstellern, seinen Spuren zu folgen, und siedelte die Handlung ihrer Romane in den Zwischenkriegs- oder Kriegsjahren an. Dies sind unter anderem: Marcin Wroński, der gegenwärtig zur engen Spitzengruppe polnischer Krimiautoren gehört und Schöpfer des hervorragenden Romanzyklus mit Kommissar Maciejewski ist, der sich in Lublin abspielt (ein Buch der Serie „Pogrom w przyszły wtorek“, dt. Pogrom am nächsten Dienstag von 2013 wurde mit dem Preis des „Großen Kalibers“ ausgezeichnet), Paweł Jaszczuk, der als erster Autor von Retrokrimis die Handlung seiner Romane im Vorkriegs-Lemberg ansiedelte (ein Zyklus mit dem investigativen Journalisten Stern, dessen erster Teil „Foresta Umbra“ schon 2004 den Preis des „Großen Kalibers“ erhielt) oder Izabela Żukowska, die über Verbrechen in Danzig an der Schwelle des Krieges schrieb („Teufel“, 2010, „Gotenhafen“, 2012). Allmählich befreiten sich die polnischen Krimiautoren von ihrer Faszination für die 1920er und 1930er Jahre und verlagerten ihre Geschichten in weniger entfernte Zeiten. Beachtung verdienen die Krimis, deren Handlung in den Realitäten der Volksrepublik spielt, etwa die interessante Romanserie von Tadeusz Cegielski, deren Geschehen in den 1950er Jahren angesiedelt ist oder die Reihe Ryszard Ćwirlejs über die Ermittlungen, die Posener Polizisten am Ende der kommunistischen Zeit durchführten. Es erschienen auch Erzählungen über Verbrechen, die in einer weit entfernten Vergangenheit spielten. Ein Beispiel hierfür sind die Krimis Jakub Szamałkas, deren Handlung im antiken Griechenland zu finden ist.

Man sollte berücksichtigen, dass ein Teil der Retro-Krimis sich nicht so sehr der Prosa des Mainstreams angenähert hatte, als vielmehr einfach zu ihm gehörte. Ich habe dabei etwa die Romanzyklen von Jaszczuk, Krajewski oder Wroński im Auge. Diese Schriftsteller knüpften auf interessante und kreative Weise an die polnische Prosa der „kleiner Heimat“ an, die in den 1990er Jahren sehr populär und geschätzt war und mit Preisen ausgezeichnet wurde. Sie verbanden ihre Elemente mit ursprünglich aus Stadtkrimis kommenden Mustern. In beiden Prosaströmungen nimmt die Beschreibung konkreter Orte, ihrer Geschichte und des genius loci einen wichtigen Platz ein. Dabei wählen diese Autoren gewöhnlich die Städte und Regionen aus, die vom Zerfall gezeichnet und von einer „von der Kette gelassenen Geschichte“ umgepflügt worden sind. Sie versuchen, wenn auch nur für einen Moment, die Erinnerung daran zurückzurufen, was unwiederbringlich der Nicht-Existenz anheimgefallen ist.

Nicht anders ist es im Falle des heutigen Stadtkrimis, dessen Popularität sich schon mit dem einige Jahre früher dominierenden Retro-Krimi messen kann. Der heutige Krimi hat in hohem Maße die Funktionen des traditionellen Sittenromans übernommen. Ich würde sogar die Behauptung riskieren, dass man gerade aus diesen Krimis, und nicht aus der Mainstream-Prosa am meisten über das polnische „Hier und Jetzt“ erfahren kann; dass die Krimiautoren in ihren Büchern die Veränderungen und Probleme des heutigen Polens am interessantesten und vollständigsten darstellen. Das beste Beispiel zur Bestätigung dieser These liefert das schriftstellerische Werk Zygmunt Miłoszewskis, des gegenwärtig bekanntesten und besten Krimiautors (Trilogie mit Staatsanwalt Szacki: „Uwikłanie“, dt. Die Verstrickung (2007), „Ziarno prawdy“, dt. Ein Körnchen Wahrheit (2011), „Gniew“, dt. Zorn (2014) – die ersten beiden Romane wurden mit dem Preis des „Großen Kalibers“ geehrt), dessen Bücher viele Kontroversen und leidenschaftliche Diskussionen erwecken, weil in ihnen so heikle Themen wie die unvollendete Abrechnung mit dem düsteren Erbe der Volksrepublik, die Frage des polnischen Antisemitismus oder die Gewalt in der Familie auftauchen. Aber auch in den Krimis anderer Autoren kann man interessante, ausgefeilte Beschreibungen und Analysen dessen finden, was heute in Polen geschieht. Zu diesen Schriftstellern gehören Katarzyna Bonda (u. a. Autorin der Krimireihe mit dem Profiler Meyer, aber auch des Bestsellerromans „Pochłaniacz“, dt. Der Fänger von 2014, der eine neue Reihe mit der Profilerin Załuska eröffnet), Mariusz Czubaj (Schöpfer der Serie mit dem oberschlesischen Profiler Heinz, deren erster Teil „21:37“ von 2008 den Preis des „Großen Kalibers“ erhielt), Gaja Grzegorzewska, die als erste in die polnische Krimiprosa die Figur einer Privatdetektivin namens Dobrowolska einführte, oder Marek Harny, der Verfasser eines Zyklus von Sittenkrimis mit dem Journalisten Bukowski, dessen erster Teil der Roman „Pismak“, (dt. Schreiberling, Preis des „Großen Kalibers“ 2005) war.

Nicht aus Zufall habe ich im vorigen Absatz zwei Schriftstellerinnen erwähnt. Zu Beginn des Krimibooms war das Milieu der Krimiautoren stark männlich geprägt, aber in den letzten fünf Jahren hat sich dieser Stand der Dinge diametral verändert. Es reicht, darauf hinzuweisen, dass im letzten Jahrfünft gerade die Krimis von Frauen am häufigsten ausgezeichnet wurden: Trägerinnen des Preises des „Großen Kalibers“wurden Joanna Jodełka (2010 für „Polichromia“, dt. Polychromie), Grzegorzewska (2011 für „Topielica“, dt. Die Ertrunkene) und Marta Guzowska (2013 für „Ofiara Polikseny“, Die Opferung Polyxenas). Dabei haben wir es in Polen nicht mit einem Frauenkrimi zu tun, der irgendwelche markanten, spezifischen distinktiven Eigenschaften haben würde, sondern eher mit einem Krimi von Frauen, also von Autorinnen verfasst. Ähnlich wie die Gesamtheit der polnischen Prosa unter dem Zeichen des Verbrechens ist auch der Frauenkrimi sehr heterogen: von Romanen über subtile Intrigen, die in einem sozusagen kulturellen Stil beschrieben werden, bis hin zu düsteren, brutalen Erzählungen, die aus dem Noir-Krimi entstanden sind, von Büchern, die unser „Hier und Jetzt“ beschreiben, bis zu solchen, deren Handlung außerhalb der Grenzen Polens spielt. Zum Beispiel verbindet Jodełka sehr gelungen kriminelle Intrigen mit Elementen eines ausgefeilten psychologischen Romans; Grzegorzewska schöpft aus dem Vollen der Tradition des amerikanischen Hard-Boiled-Krimis, indem sie ihre Prosa mit Beschreibungen von Sex und entarteter Gewalt anreichert; Bonda beschreibt nicht nur mit chronikartiger Gewissenhaftigkeit die Veränderungen des heutigen Polens, sondern beschäftigt sich auch mit schwierigen gesellschaftlichen Problemen, wie etwa der Gewalt in der Familie oder der Intoleranz gegenüber einem breit verstandenen Fremden. Und dann sind da noch Autorinnen der jüngeren Generation, die gerade einmal die Krimiwelt betreten haben, aber schon eine Menge Hoffnung für die Zukunft machen, wie etwa Sasza Hady, die ihre Geschichten in England spielen lässt oder Katarzyna Puzyńska, die das Muster des Skandinavienkrimis kreativ weiterentwickelt und vor Kurzem mit dem bravourösen Roman „Der Schmetterling“ (dt. Motylek) debütiert hat.

Ich habe die drei Strömungen genannt, die heutzutage im polnischen Krimi ganz klar dominieren, nämlich den Retro-Krimi, den heutigen Stadtkrimi und den Krimi der Frauen, aber ich könnte problemlos auf einige andere interessante Phänomene im Bereich dieses Genre hinweisen. Das sind beispielsweise die Jux-Krimis (eine Bezeichnung Wrońskis), also Sittenkriminalromane, die mit einer großen Portion Humor angereichert sind, auf die sich hauptsächlich Schriftstellerinnen spezialisiert haben (ein Beispiel hierfür liefert einer der Romane von Marta Obuch), beziehungsweise Antikrimis mit der unvergessenen Trilogie des Dichters Marcin Świetlicki an der Spitze oder auch zu zweit geschriebene Krimis. Hinzu kommt noch die ganze Masse an interessanten Krimidebüts, die verschiedene Register der Krimiprosa ziehen. Ganz bestimmt ist für jeden etwas dabei.

Aussichten

Der Krimiboom in Polen dauert an und wird dies – wie ich meine – auch in Zukunft tun. Momentan weist nichts darauf hin, dass in nächster Zeit die von einigen Kritikern prophezeite konjunkturelle Überhitzung erfolgen wird. Ganz im Gegenteil. Die Zahl der jedes Jahr herausgegebenen neuen Krimititel wird nicht kleiner. Jeder Verleger, der auf dem Markt von Bedeutung ist, bemüht sich darum, in seinem Angebot Bücher polnischer Krimiautoren zu haben; und überhaupt sind Verlage entstanden, die sich ganz auf die Herausgabe von Krimiprosa spezialisiert haben, wie der Verlag Oficynka in Gdingen. Neben dem schon anerkannten Internationalen Krimifestival in Breslau sind neue, lokale Initiativen erwachsen, die den Krimi fördern: die Festivals „Kryminalna Piła“ (Krimi-Schneidemühl), im Rahmen dessen im Jahre 2014 zum ersten Mal ein Preis für den besten Stadtkrimi an den Roman von Wroński verliehen wurde, aber auch „Włocławek na Celowniku“ (Loslau im Visier). Die Krimiprosa scheint nach wie vor neben der Reportageprosa der am schnellsten wachsende Zweig der heutigen polnischen Prosa zu sein.

Natürlich begegne ich der von mir am Anfang dieses Textes vorhergesagten Möglichkeit einer baldigen Entthronung des skandinavischen Krimis durch den polnischen mit einem Augenzwinkern. Nicht erst seit heute ist bekannt, dass die polnische Prosa irgendwie nicht zur ersten Wahl ausländischer Verleger gehört, dass es für polnische Autoren deutlich schwerer ist, sich mit den Übersetzungen ihrer Bücher durchzuschlagen als für Schriftsteller aus Skandinavien, Deutschland oder England. Na, aber träumen wird man ja wohl noch dürfen. Schließlich muss aus dieser gesegneten Vielfalt etwas Außergewöhnliches entstehen …

 

Aus dem Polnischen von Markus Krzoska

Robert Ostaszewski

Literaturkritiker, Feuilletonist, Chefredakteur des „Portal Kryminalny“, Redakteur von „FA-art“ und „Dekada Literacka“; leitet Werkstätten für Kreatives Schreiben im Literarisch-Künstlerischen Studium an der Jagiellonen-Universität, lebt in Krakau.