Agnieszka Krzemińska

Eine Frage des Blutes

 

Ludwik Hirszfeld, Pole jüdischer Herkunft, war ein Pionier der Blutgruppenforschung. Eine Schweizer Autorin behauptet, das reichte, um den Rassismus wissenschaftlich zu fundieren, zumal Hirszfeld selbst an die Überlegenheit einer über die anderen Rassen glaubte. Aber war es wirklich so?

Vor einem Jahr erschien im Transcript-Verlag Myriam Spörris Buch „Reines und gemischtes Blut. Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung 1900–1933“. Die Züricher Historikerin behauptet darin, Wissenschaftler jüdischer Herkunft hätten mit ihrer Arbeit zur Obsession der Nazis mit der Reinheit des Blutes, folglich auch zum Holocaust beigetragen. In der Tat entdeckte Karl Landsteiner im Jahr 1901 die Blutgruppen, und Carl Bruck verwendete den Rassenbegriff in Bezug auf das Blut in einer Publikation von 1906, aber Spörri nach befasste sich erst Ludwik Hirszfeld wissenschaftlich mit der Überlegenheit einer Rasse über die andere und führte den Begriff der Rassenreinheit ein. Die Autorin zieht diesen Schluss aus ihrer Lektüre der wissenschaftlichen Veröffentlichungen Hirszfelds und seiner Autobiografie „Historia jednego życia“ (Geschichte eines Lebens). Seine Erinnerungen beschreiben die Chronik seines Lebens, aber darin „eugenisch aufgeladene Ansichten“ zu finden, ist entweder reine Niedertracht oder liegt an einer schlechten Übersetzung des polnischen Textes.

Ludwik Hirszfeld wurde am 5. August 1884 in einer Familie assimilierter Warschauer Juden geboren. Mit noch nicht zwanzig Jahren begann er ein Medizinstudium in Würzburg, von wo er bald nach Berlin ging, wo er sich für Bakteriologie und Immunologie zu interessieren begann. Nach dem Studium ging er an das Institut für Krebsforschung in Heidelberg, wo er Emil von Dungern kennenlernte. Die beiden freundeten sich an, stellten gemeinsame Forschungen an und führten endlose Gespräche über Frauen. Ihre größte wissenschaftliche Leistung war der Nachweis, dass sich die Blutgruppen gemäß den Mendelschen Gesetzen vererben. Auf sie geht die Nomenklatur der Blutgruppen zurück, die bis heute gilt. Während ihr Entdecker Landsteiner sie einfach durchnummeriert hatte, bezeichneten Hirszfeld und Dungern sie als Gruppen A, B und 0 (eigentlich „O“, abgeleitet von „ohne“).

Die nächste Etappe seiner wissenschaftlichen Laufbahn erlebte Hirszfeld an der Universität von Zürich, wohin er 1911 kam. Er forschte am Blutplasma und den Zusammenhängen zwischen Abwehr- und Gerinnungsfähigkeit des Blutes, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Hirszfeld ging als Arzt und Hygieniker nach Serbien, wo er eine Flecktyphusepidemie und andere ansteckende Krankheiten wie die Malaria bekämpfte. Anschließend kam er zusammen mit seiner Ehefrau nach Saloniki. Dort leiteten beide in einem von den Franzosen geführten Feldspital ein bakteriologisches Labor. Sie begannen Forschungen zu den Blutgruppen bei verschiedenen Völkern, denn bei Saloniki war die aus vielen Nationalitäten bestehende Armée d’Orient stationiert, die sich auf den Angriff auf das Osmanische Reich vorbereitete. Die Untersuchungen Hirszfelds hatten für die damalige Zeit einen ungewöhnlichen Umfang, denn er konnte von nicht weniger als achttausend Soldaten Blutproben nehmen. In seiner Autobiografie scherzte Hirszfeld, er musste abhängig von der Nationalität jeweils andere Argumente gebrauchen, um die Soldaten zur Abgabe einer Blutprobe zu überreden. Den Engländern sagte er, ihr Blut diene der Wissenschaft; den Franzosen, er überprüfe, mit wem sie ungestraft sündigen könnten; und den Senegalesen aus den Kolonialeinheiten, dass die Untersuchung zeigen werde, wem Urlaub zustehe. Dieser scherzhafte Tonfall, so Myriam Spörri, belege, dass sich bereits damals die „rassistischen Überzeugungen“ Hirszfelds zeigten, aber den endgültigen Beweis liefert für sie ein Artikel in der Zeitschrift „The Lancet“ von 1919 über die Entstehung der Blutgruppen und ihre Verteilung bei den verschiedenen Populationen.

Hirszfeld zufolge existierten zunächst die Blutgruppen A und B (er nennt sie „prärassische“), die sich vermischten. Die Blutgruppe A schreibt er der weißen, europäischen „Rasse“ zu, da sie dort häufiger auftrete, und die Blutgruppe B der dunkelhäutigen „Rasse“. In Bezug auf die Blutgruppenverteilung hatten die Hirszfelds Recht, denn dies wurde durch spätere Untersuchungen bestätigt, sie irrten sich jedoch über die Ursachen ihrer Entstehung ‒ heute nimmt man an, dass die Gruppe A die ursprüngliche war, aus der vor etwa zwei Millionen Jahren aufgrund einer genetischen Mutation die Gruppen 0 und B entstanden. Spörri meint, dieser Artikel sei die wissenschaftliche Grundlegung für die Ideologie von der „Blutreinheit“ geworden, und die rassistischen Ansichten Hirszfelds würden darin erkennbar, dass er mit dem Wort „Rasse“ das Blut definiere. Aber selbst wenn man heute in der Genetik oder bei den Blutgruppen nicht mehr von „Rassen“ spricht, sondern nur noch von „Populationen“, war das 1919 nicht ungewöhnlich. Politische Ansichten aus Formulierungen aus dem frühen 20. Jahrhundert abzuleiten oder aus Anekdoten in Memoiren, ist nunmehr geschichtswissenschaftlich völlig unzulässig und eine Überinterpretation.

Nachdem Polen wieder unabhängig geworden war, kehrte Hirszfeld in seine Heimat zurück, wo er Mitbegründer und Leiter des Staatlichen Hygieneinstituts in Warschau wurde (1924‒1939). Er forschte zum serologischen Konflikt des Rhesusfaktors und den Hauptblutgruppen A, B und 0. Dank Hirszfelds Entdeckungen wurde die Blutgruppenforschung auch juristisch relevant, hauptsächlich beim Vaterschaftstest (er wurde als Experte zu dem berühmten Fall der Rita Gorgonowa hinzugezogen). Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war er in Warschau. Er kam ins Ghetto, behandelte dort die Kranken, impfte mit eingeschmuggelten Spritzen gegen Flecktyphus und hielt Vorträge über Medizin, in denen er hervorhob, dass aus biologischer Sicht die Behauptung der Höherwertigkeit bestimmter Menschen gegenüber anderen keine wissenschaftliche Grundlage besitze. 1942 entkam er gemeinsam mit seiner Familie aus dem Ghetto, um sich in der Nähe von Warschau zu verstecken. Dort schrieb er seine Lebenserinnerungen, in denen er beklagte, dass die „Forschung an den Blutgruppen zu schlechten Zwecken missbraucht“ werde. Nach dem Krieg gelangte Hirszfeld nach Breslau, und zwei Jahre vor seinem Tod gründete er dort das Institut für Immunologie und Empirische Therapie der Polnischen Akademie der Wissenschaften, das heute seinen Namen trägt. 1950 wurde Ludwik Hirszfeld für seine Erklärung der Blutgruppenunverträglichkeit zwischen Mutter und Ungeborenem für den Nobelpreis nominiert.

Hirszfeld das Etikett des Rassisten anzuheften, ist wissenschaftlich schwach begründet. Denn Spörris Buch macht klar, dass seine hauptsächliche Schuld darin bestanden habe, sich damit zu befassen, welche Blutgruppen bei welchen Populationen auftraten, und dabei heute politisch inkorrekte Begriffe zu benutzen. Hirszfeld hat dagegen nirgendwo behauptet, die eine Blutgruppe sei besser oder schlechter oder ihre Reinheit beeinflusse den Charakter. Er war der Begründer der Seroanthropologie, aber dass diese „rassistisch orientierte Wissenschaft“ benutzt wurde, um die Ideologie der Reinheit des Blutes zu untermauern, hat ihn eher bekümmert als erfreut. Man muss schon sehr mutwillig vorgehen, um in seiner Autobiografie „eugenisch aufgeladene Ansichten“ zu erkennen, und der einzige Weg, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, bleibt die Lektüre von Hirszfelds Autobiografie, die nach fast 70 Jahren endlich in deutscher Übersetzung erscheinen soll.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann