Auf dem Bergpfad

Das Magazin DIALOG als europäisches Projekt. Reflexionen zum 25. Geburtstag der Zeitschrift.

Basil Kerski, Chefredakteur Deutsch-Polnisches Magazin DIALOG
Basil Kerski, Chefredakteur des Magazins DIALOG

Die Europäer vertrauen heute einer politischen Kultur, die ohne Utopien auskommt. Utopien von einem Paradies auf Erden sind verflogen, doch nicht verschwunden ist die Forderung, dass die Welt nicht nur verwaltet, sondern vor allem auch verändert werden muss. Auch demokratische Gemeinschaften brauchen Ziele, sehnen sich nach Vorstellungen von politischem Fortschritt. 

Die Europäer klagen gerne über Europa. Nach einem Jahrhundert der totalitären Versuchungen, der nationalistischen Hetze und der starken Emotionalisierung von Politik ist es allzu verständlich, dass Europäer kühnen politischen Ideen mit Misstrauen oder bestenfalls mit distanzierter Sympathie begegnen. Das ständige Jammern über Europa ist sicherlich ebenfalls eine Folge der paradoxen Entwicklung der europäischen Integration. In einem seiner letzten Essays hat der kürzlich verstorbene britisch-amerikanische Ideenhistoriker Tony Judt treffend festgestellt, jeder bedeutende Integrationsfortschritt in Europa sei die Folge einer Krise gewesen. In der jüngsten finanzpolitischen Misere des Euro-Raums sah Judt demnach nicht nur eine Gefahr für den Zusammenhalt der Union, er erkannte in ihr zugleich eine Chance zu einem weiteren Integrationsschritt auf dem Feld der europäischen Währungs- und Wirtschaftspolitik. 

Das Paradoxe der europäischen Annäherung hat auch der polnische Dichter Adam Zagajewski in dem Essay "Unser Europa" zu charakterisieren versucht: Europa sei, so Zagajewski, aus dem Geist des "Liberalismus der Angst" entstanden. Der Wunsch der Menschen, nie wieder Nationalismus, Faschismus, Krieg und Hunger zu erleben, habe die Europäer zusammengebracht. Der Ursprung des modernen Europas liege im Impuls der Negation, und diese "edle Selbstbeschränkung" mildere ihre Vitalität. "Der EU fehlt vielleicht der Zug zum Unbekannten, die blinde Zuversicht von Neulandsuchern", so der in Krakau lebende polnische Schriftsteller. 

Europäischer Fortschritt ohne Utopien 

Die Europäer vertrauen heute einer politischen Kultur, die ohne Utopien auskommt. Utopien von einem Paradies auf Erden, so der italienische Schriftsteller Claudio Magris, sind verflogen, doch nicht verschwunden "ist die Forderung, dass die Welt nicht nur verwaltet, sondern vor allem auch verändert werden muss". 

Auch demokratische Gemeinschaften brauchen Ziele, sehnen sich nach Vorstellungen von politischem Fortschritt. Zygmunt Bauman hat in einem 2008 im DIALOG (Nr. 83) veröffentlichten Essay eine interessante Idee formuliert, wie wir uns europäischen Fortschritt frei von utopischen Ambitionen denken können. Der polnisch-britische Philosoph ist fasziniert von der Metapher, wonach man sich das europäische Abenteuer als einen Aufstieg auf einem Bergpfad vorstellen müsse - eine Metapher, die der deutsche Historiker Reinhart Koselleck bereits in seiner Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert gebraucht hat. Wenn wir den Bergpfad hinaufsteigen, dann haben wir nicht die geringste Ahnung davon, was wir auf der anderen Seite des Berges sehen werden, wir können uns das künftige Stadium der europäischen Integration nicht vorstellen. Solange wir den Bergpfad über einen sehr steilen Abhang emporsteigen, sollten wir nicht anhalten, wir müssen vorwärtsgehen, denn wenn wir uns auf dem steilen Abhang niederlassen und unsere Zelte aufschlagen, dann wird der erste Windstoß diese von der Erdfläche fegen - das ist also kein Ort, um anzuhalten. 

Baumans Faszination für diese Metapher ist allzu verständlich. Diese Vorstellung von politischer Dynamik ist frei von der Vision, auf der anderen Seite des Berges befinde sich das Paradies auf Erden. Wir können nicht wissen, was uns auf der anderen Seite erwartet und dennoch muss unser Aufstieg konsequent bleiben, um die eigene Sicherheit nicht zu gefährden. 

Bauman hebt als Charakterzug Europas vor allem den "Reichtum aus Sprachen und Kulturen auf engstem Raum" hervor und unterstreicht, wie wichtig es ist, ohne einen Traum vom Gelobten Land die Kooperation zwischen den Nationen zu intensivieren, deren Form permanent weiterzuentwickeln. Europa kann auch ohne eine missionarische Zielvorstellung, ohne die Idee vom Ende der Geschichte, den Prozess der Integration fortsetzen, dem Bergpfad weiter folgen. 

Seine Reflexionen über das Abenteuer der europäischen Integration führt Bauman vor dem Hintergrund der kantischen Frage, in welcher Art und Weise Europäer dazu beitragen können, die "Welt gastfreundlicher zu gestalten". Die Bedeutung Europas, dieser "Üppigkeit der Unterschiede", für die Welt besteht darin, so Bauman, dass Europa ein Labor sein könne, in dem eine bestimmte Lebenskunst entstehe, die das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, Sprachen und mannigfaltiger Traditionen ermögliche.

Bereitschaft zum europäischen Denken 

Die Welt zu verändern, dabei frei zu sein von utopischen Illusionen; den europäischen Fortschritt als eine lange Bergwanderung zu verstehen; in Europa ein Labor für das friedliche Zusammenleben von Nationen erkennen; die Krisen als Chancen zu begreifen - diese Vorstellungen bildeten und bilden auch heute die geistige Grundlage für die Arbeit unseres Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG. Diese Vorstellungen hervorzuheben, ist gerade heute, in Zeiten der finanzpolitischen Krise des europäischen Einigungsprojektes und der Gefährdung der europäischen Idee, notwendig. Weitsicht ohne utopischen Eifer und die Bereitschaft zum europäischen Denken bewiesen die bundesrepublikanischen Deutsch-Polnischen Gesellschaften, als sie im Frühjahr 1987 das Magazin DIALOG ins Leben riefen. Die Zeitschrift entstand zwar nur zwei Jahre vor dem Niedergang des Kommunismus, doch kaum jemand glaubte zu jener Zeit ernsthaft, dass der Zusammenbruch des Sowjetblocks so kurz bevorstand, dass die Berliner Mauer fallen würde und dass Polen und Ostdeutsche bald in Freiheit leben würden. Das Projekt wirkte damals utopisch, es setzte auf eine Kultur des Dialogs über die Grenzen des geteilten Kontinents hinweg. Die Gründer der Zeitschrift, deutsch-polnische Initiativen und Vereine aus der Bundesrepublik, hatten bereits Erfahrungen auf dem Feld der europäischen Zusammenarbeit gesammelt. Viele ihrer Protagonisten waren bereits im Verständigungsprozess mit den westeuropäischen Nachbarn aktiv. Sie zählten zu jenen Westdeutschen, die ein kulturelles Interesse für den gesamten Raum Mittel- und Osteuropa aufwiesen, Deutsche mit einem kritischen Verhältnis zur jüngsten Geschichte, offen für den Dialog mit den Nachbarn, Europäer, die die Teilung des Kontinents auf friedlichem, evolutionärem Weg überwinden wollten. 

Die meisten Deutsch-Polnischen Gesellschaften waren in den 1970er Jahren infolge der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition entstanden. Die neuen diplomatischen Kontakte zu den Staaten des Ostblocks sollten genutzt werden, um ein Netz gesellschaftlicher Kontakte aufzubauen. Diese Haltung war nicht die Folge politischer Naivität oder eines mangelnden Kritizismus gegenüber den Sowjetherrschern, sondern entstand aus der Überzeugung heraus, dass nur kleine Schritte (der Fortschritt der Schnecke, um eine Metapher von Günter Grass zu benutzen) und nicht politischer Radikalismus Europa verändern könnten. In der Zeit nach der Unterzeichnung des KSZE-Abkommens sollten die engen Räume der Freiheit durch gesellschaftliche Initiativen erweitert werden. Die Solidarność-Bewegung gab 1980-81 dieser Dynamik neuen Schwung. Die Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981 hatte zwar die europäische Euphorie zerstört, doch die gesellschaftliche Dynamik nicht aufgehalten. Das Kriegsrecht setzte eine Welle deutsch-polnischer Kooperationen vor allem im humanitären Bereich in Gang. Die durch ihr Engagement gestärkten Deutsch-Polnischen Gesellschaften stellten schon lange vor 1989 grundsätzliche Fragen nach Perspektiven des deutsch-polnischen Verhältnisses; so tauchte einst in ihren Reihen die Idee eines Jugendwerks nach deutsch-französischem Vorbild auf; darüber hinaus sollte eine ambitionierte deutsch-polnische Zeitschrift gegründet werden. 

Die politischen Revolutionen von 1989 zeigten, wie zeitgemäß diese Ideen waren. Der Zusammenbruch des Sowjetblocks eröffnete dem DIALOG und den Deutsch-Polnischen Gesellschaften neue Ziele: Sie traten nun für die Osterweiterung der NATO und EU ein, erinnerten in Deutschland an die kulturellen und politischen Verbindungen Polens und anderer mitteleuropäischen Nationen mit der westlichen Wertegemeinschaft. Hinzu kam, dass sich die Deutsch-Polnischen Gesellschaften gemeinsam mit dem DIALOG darum bemühten, eine breitere Öffentlichkeit über den deutsch-polnischen Annäherungsprozess und über die Transformationsfortschritte in den jeweiligen Gesellschaften zu informieren. 

Der Informationsfluss war in den 1990er Jahren notwendig, denn beide Nationen waren stark auf sich konzentriert. Nach der Euphorie der Vereinigung war die Bundesrepublik von den Schwierigkeiten des Systemwechsels in den Neuen Bundesländern überrascht und auf innerdeutsche Themen fixiert. Der Balkankrieg und die ersten NATO-Einsätze der Bundeswehr außerhalb des Bündnisses lenkten die Aufmerksamkeit weg von der deutsch-polnischen Problematik. In Polen wiederum verlor nach der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze die deutsche Thematik ihre negative Ausstrahlung - der deutsch-polnische Dialog war eine Selbstverständlichkeit, für die meisten Medien entweder ein langweiliges Ritual oder "nur" konfliktlose Begegnungen. In dieser Zeit vor der EU- und NATO-Osterweiterung, vor dem 11.September 2001, vor den Afghanistan- und Irak-Kriegen, in der Frühphase des Internets hatten das Magazin DIALOG, die Brandenburger Zeitschrift "Transodra" sowie die polnischen Redaktionen der Deutschen Welle und des SFB(RBB)-Senders Radio-Multikulti quasi ein Informationsmonopol für die deutsch-polnischen Themen. 

Neues Jahrtausend - neue mediale und politische Realität 

Das sollte sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends grundlegend ändern. Das Internet setzte eine neue Welle des deutsch-polnischen Informationsflusses in Gang. Durch den vollzogenen NATO- und EU-Beitritt gewannen die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau an Gewicht. Die während des Irak-Krieges und der EU-Verfassungsdebatte sichtbar gewordenen Wertunterschiede zwischen den politischen Eliten steigerten die Attraktivität deutsch-polnischer Themen, die Deutschen begannen Polen, dieses vermeintlich "Trojanische Pferd der USA in Europa" wieder genauer wahrzunehmen. 

Hinzu kam die durch den Regierungsumzug nach Berlin ausgelöste kulturelle und politische Evolution der Bundesrepublik. Durch Berlin wurde die Bundesrepublik mitteleuropäischer, näherte sich sowohl der deutsch-polnischen Grenze, als auch den Erfahrungen des postkommunistischen Systemwechsels. In Polen wiederum sollten zwei grundlegende Umbrüche der deutsch-polnischen Thematik eine neue Konjunktur verschaffen: die Zeitungskrise in Folge des Aufstiegs elektronischer Medien und der Wandel der Parteienlandschaft. 

Der neue Zufluss ausländischen Kapitals nach dem EU-Beitritt und die Erosion des Anzeigenmarktes, der schrittweise ins Internet verschwand, führten zu einem intensiven Kampf um Marktanteile bei den polnischen Printmedien. Billige Polemik, Schwarz-Weiß-Schablonen, Feind- und Freundbilder fanden nun Eingang in das Feld der internationalen Berichterstattung, der Debatten um Polens Europapolitik. Nur wenige polnische Politiker konnten sich dieser Dynamik entziehen, zumal die polnische Parteienlandschaft seit dem Zusammenbruch der Post-Solidarność-Partei AWS 2001 wieder in eine Phase des grundlegenden Wandels eintrat. Zwei neue Parteien entstanden auf dem AWS-Trümmerfeld: Tusks PO und die PiS der Kaczyński-Brüder. Um sich zu profilieren, bedienten sich beide Parteien einer radikalen, zuweilen populistischen Rhetorik. Dieser Politikstil bekam Auftrieb durch Skandale in der Zeit der postkommunistischen Regierung zwischen 2001-2005. Zu jener Zeit träumten die PiS und PO von einer Genesungskur der jungen polnischen Demokratie, der Gründung einer neuen, Vierten Republik. 
In Europa wurde damals versucht, die Strukturen der EU an die neue Größe der Gemeinschaft nach der Osterweiterung anzupassen, der Union eine neue Vertragsbasis zu geben ("Verfassungsdebatte"). Auf die EU-Reformpläne reagierten sowohl die PO als auch die PiS mit zum Teil populistischen Slogans ("Nizza oder der Tod!"). Die PiS hat sich im Bereich der Europapolitik bis heute von dieser populistischen Rhetorik nicht befreien können, was inzwischen einige ihrer profilierten Außenpolitiker bewogen hat, die Partei zu verlassen. Die PO wiederum ist, nachdem sie 2007 die Regierungsverantwortung übernahm, zu einer sachlichen außenpolitischen Rhetorik übergegangen. 

Überdies gab es deutsche Faktoren, die die Wahrnehmung der deutsch-polnischen Beziehungen verändert hatten: Gerhard Schröders Freundschaft mit Putin wurde von Polen als Provokation verstanden und die "Wiederentdeckung des Nationalstaates in Deutschland" (Jürgen Habermas) hat die polnischen Medien für die Europapolitik der Berliner Republik sensibilisiert. Mediale Provokationen in Polen (Erika Steinbach in Nazi-Uniform) sowie der Missbrauch alter, antideutscher Stereotypen durch die PiS im Kampf mit dem politischen Gegner (Stichwort "Großvater in der Wehrmacht") weckten wiederum das Interesse deutscher Medien für polnische Debatten und bestätigten dabei auch manch ein antipolnisches Ressentiment.

Distanz zur Aktualität, Nähe zum Puls der Zeit 

Die gewachsene mediale Konkurrenz, das neue Interesse für die deutsch-polnischen Themen und die Verflachung der politischen Debatten stellten für die Redaktion des DIALOG eine besondere Herausforderung dar. Die Redaktion musste sich in den letzten Jahren oft die Frage nach ihrer Rolle in der neuen medialen und politischen Wirklichkeit stellen. Mir fiel vor einigen Jahren ein Brief Hermann Hesses an Siegfried Unseld aus den späten 1950er Jahren über die Rolle des Literaturverlegers in die Hand. Hesses Ratschläge an den jungen Verleger Unseld sind meiner Ansicht nach heute noch wertvolle Orientierungspunkte für Redakteure von Buchverlagen, aber auch von Zeitschriften wie dem DIALOG. Hesse empfahl Unseld, die Distanz zur aktuellen Wirklichkeit zu suchen, aber in einer Art und Weise, in der der Leser spürt, nahe am Puls der Zeit zu sein. 

Distanz zur Tagesaktualität bei Wahrung der Sensibilität für Themen unserer Zeit - das ist der Weg, den unsere Redaktion in den letzten Jahren gegangen ist. Diese Redaktionsphilosophie und ebenso den europäischen Charakter des Magazins DIALOG verdeutlichen vor allem Texte des 2010 veröffentlichten Schwerpunktthemas "Die andere Seite Europas" (DIALOG, Nr. 91). Wir haben diese DIALOG-Ausgabe zwei Jahrzehnte nach den europäischen Revolutionen als ein programmatisches Heft konzipiert, das unseren Denk- und Erzählstil, unser Verständnis vom kulturellen und politischen Erbe Europas charakterisiert - quasi ein intellektuelles Selbstporträt in einer Zeit grundlegender medialer und politischer Umbrüche. 

Diesen für uns so wichtigen Textblock hat kein Deutscher oder Pole eröffnet, sondern ein Österreicher, der renommierte Schriftsteller und Übersetzer polnischer Literatur Martin Pollack. Um uns konsequent zu unserer mitteleuropäischen Identität zu bekennen (frei von Nostalgie nach der K. u. k. Monarchie), schlossen wir den Themenschwerpunkt mit einer Analyse der geistigen Verfassung Europas aus der Sicht des in Triest lebenden italienischen Germanisten Claudio Magris ab. Was sind die Kernaussagen der darin versammelten Essays und Reportagen, auf welche besonderen Herausforderungen in Europa wollten wir mit diesen Texten lenken, wofür steht unser Magazin heute? Pollacks Beitrag erinnert daran, dass die politische Teilung des Kontinents auch eine kulturelle Seite hatte, sie schaffte nicht nur politische Feindbilder, sondern vertiefte die kulturelle Spaltung Europas, die Distanz zu den "anderen Europäern". Die letzten Jahre zeigten, so Pollack, wie schwerwiegend diese Teilung ist. Es stellte sich heraus, dass in den Köpfen der Menschen Öffnungen und Erweiterungen viel langsamer stattfänden als in der Realpolitik. Die Vorurteile und die Gleichgültigkeiten gegenüber Nachbarn, die sich gestern auf der anderen Seite Europas befanden, seien schwerer zu überwinden als träge politische Systeme. Ein großes Ärgernis ist für Pollack das Desinteresse der Westeuropäer vor allem für die aufstrebende ukrainische und belarussische Kultur. Diese zunehmende Gleichgültigkeit habe die Dynamik des europäischen Erweiterungsprozesses aufgehalten, der europäische Schwung der 1990er Jahre sei verschwunden: "Wo vorher die mitreißende Überzeugung war, sitzen jetzt nagende Zweifel. Nationale Egoismen machen sich breit, kleinkariertes, engherziges Denken macht sich breit." 

Es ist einfacher zu zweifeln und zu verzweifeln, als zu handeln. Martin Pollack gehört zu den Handelnden, übersetzt und fördert osteuropäische Autoren. Auch wir wollen Handelnde und nicht passive Fatalisten sein und haben im letzten Jahrzehnt versucht, Wahrnehmungsgrenzen zu überqueren und Autoren, vor allem aus der Ukraine und Belarus, präsentiert. 

Unsere Vorstellung von Mitteleuropa hat Krzysztof Czyżewski sehr stark geprägt. In dem programmatischen Themenblock von 2010 beschreibt Czyżewski seine Vorstellung vom mitteleuropäischen Kulturraum mit folgenden Worten: "Mitteleuropa ist für mich eher Ethos als Geopolitik, es ist eine Haltung, die der Entwurzelung Zugehörigkeit entgegensetzt, der ideologischen Vernebelung mutigen Realitätsbezug, dem komplexgeladenen Provinzialismus die Stärke der Provinz, den scharf gezogenen Grenzen einen Raum der wechselseitigen Durchdringung und der Koexistenz." Klare Grenzziehungen, wobei ich nicht staatliche Grenzen, sondern die enge Definition von kulturellen, religiösen, ethnischen oder politischen Identitäten meine, dieser Drang ist ein fatales Erbe der letzten beiden Jahrhunderte. Gegen dieses Erbe der Engstirnigkeit, vor allem auf dem Feld des ethnisch definierten Nationalstaates, tritt mit seinem Essay "Die Heilig-Geist-Gasse" der Danziger Schriftsteller Paweł Huelle ein. Er porträtiert zwei Danziger Europäer, Johanna Schopenhauer und Daniel Chodowiecki, die in die modernen Identitätsmuster, den "genetischen Fatalismus" des 20. Jahrhunderts nicht hineinpassen, deren Werk und Haltung heute eine Inspirationsquelle für europäisch denkende Deutsche und Polen sein könnte. 

Mit anderen Grenzziehungen polemisiert in seinem Essay "Rathaus und Kathedrale" Stefan Chwin: der klaren Trennung zwischen dem Geistlichen und Weltlichen, zwischen Metaphysik und Staatswesen, zwischen religiöser und bürgerlicher Gemeinschaft. Nicht klare Abgrenzungen, sondern Spannungsräume seien die prägende Erfahrung von Europäern, vor allem die städtischen Kulturräume sind Zeugnisse dieser Koexistenz und Konkurrenz. Die Nachbarschaft zwischen Rathaus und Kathedrale symbolisiere das Zusammenleben der Welten zwischen Symbiose und Spannung am trefflichsten. Ein besonderer Kenner der Grenzen, Grenzräume und von Grenzüberschreitungen ist Claudio Magris. In der programmatischen Nummer des DIALOG von 2010 haben wir seine Frankfurter Friedenspreisrede dokumentiert. Magris stellte in Frankfurt die Frage nach den Herausforderungen, vor denen Europa steht. Er betonte vor allem zwei: die Gefährdung der Demokratie durch den Populismus und die Notwendigkeit, Europa auf eine neue globale Wirklichkeit, vor allem auf Migrationen aus dem Süden und Osten einzustellen. Unsere Nationen entwickelten sich zunehmend, so Magris, zu Demokratien ohne Demokraten. Populismus sei eine Krankheit. Doch wie definiert Magris Populismus? Er bezeichnet Populismus als "eine schwammige gesamtgesellschaftliche Erscheinung, welche die unverbrüchlichen Grundwerte, jedes Gefühl für Recht und Unrecht, jeden Bezug zwischen dem Wohl des einzelnen und dem Gemeinwohl aufgibt. Ein Gefühl. Das zwar nicht ausreicht, das aber zu haben notwendig ist, um wenigstens hoffen zu können, dass man Gerechtigkeit schafft und damit Frieden." Dieser Populismus hat die Grenzen der Nationalstaaten überquert und sogar unsere Vorstellung von Europa infiziert. Magris macht sich vor allem Sorgen, ob es Europa gelingt, auf die globalen Veränderungen, vor allem auf Migrationen und die Begegnung mit fremden Kulturen friedlich zu reagieren. Diese Dynamik eröffnet die Chance zur Evolution unserer europäischen Kultur, wobei wir uns dabei fragen müssen, um welches Kulturerbe es sich handelt und welche Werte unserer demokratischen Traditionen wir erhalten wollen. Nur ein europäischer Staatenbund, natürlich dezentralisiert, könne fähig sein, sich den über das Nationale hinausgehenden Problemen zu stellen, betont Magris.

Labor Europa 

Ein binationales Magazin wie DIALOG ist ohne das europäische Abenteuer nicht denkbar, wir zählen zu denjenigen Europäern, die den europäischen Bergpfad gegangen sind, wir wollen ihn weitergehen und sind neugierig, wohin er uns noch führt. 25 Jahre nach der Gründung unserer Zeitschrift ist heute deutlich zu spüren, dass die europäischen Nationen erneut vor der Entscheidung stehen, welchen Weg sie einschlagen wollen: Rückzug ins Vertraute, die kulturellen Grenzen deutlicher ziehen, Wegschauen von der Not anderer, kurzfristiges Kalkül? Oder doch visionäres Denken, nicht umkehren und den europäischen Weg weitergehen, nach einer besseren Form der Zusammenarbeit von Nationalstaaten suchen, eine effiziente Organisation europäischer Interessen gestalten? 


Im Angesicht der Euro-Krise erinnerte vor zwei Jahren der (damals schon todkranke) britisch-amerikanische Ideenhistoriker Tony Judt, wie erfolgreich Europa in den letzten Jahrzehnten war, welche Vorbildfunktion ihr in der Welt zugewachsen ist: "Nirgends sonst auf der Welt ist eine Region (…) so erfolgreich aufgebaut und verwaltet worden, ohne dass es dabei zu Krieg oder der Bildung eines Imperiums gekommen wäre - und das trotz einer verheerenden Vorgeschichte." Es wird sich in den nächsten Jahren zeigen, ob Europa die Vorbildfunktion erhalten kann, ob es tatsächlich ein Labor sein wird, in dem die Kultur des friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, Sprachen und Traditionen weiterentwickelt wird. 

 

Basil Kerski 

Seit 1999 Chefredakteur 
des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG.