Ein Europa mit den richtigen Antworten

Marek Prawda

Ein Europa mit den richtigen Antworten (Ausgabe 117)

Dankesrede zur Verleihung des DIALOG-Preises 2016

Aufgrund meiner diplomatischen Tätigkeit bin ich daran gewöhnt, Preise und Auszeichnungen zu übergeben, aber nicht daran, sie zu erhalten. Es fällt mir auch leichter, etwas über andere zu sagen, als Äußerungen über mich selbst anzuhören. Doch mache ich keinen Hehl daraus, über die Zusammenkunft in diesem Kreise und an diesem Ort erfreut und gerührt zu sein. Diese Auszeichnung betrachte ich als eine außergewöhnliche Ehre. Sie bestätigt überdies, dass das Gespräch zwischen Polen und Deutschen andauert, einen europäischen Sinn hat und notwendig ist.

Ich fühle mich geehrt durch die Anwesenheit und Worte von Frau Professor Gesine Schwan ‒ einer Vorreiterin des deutsch-polnischen Dialogs, eines Menschen, ohne den die Geschichte unserer Kontakte in den schwierigen Jahren und später, im souveränen Polen nach 1989, unvollständig wäre. Gesine Schwan hat uns etwas ungemein Seltenes und Wertvolles geschenkt: Das Wissen um die herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Wissenschaft und Politik, unter denen sich Menschen befinden, für die Polen kein flüchtiger Flirt oder Gegenstand eines bloßen Augenblicksinteresses ist. Ihre Neugier auf Polen war intellektuell selbstlos und hartnäckig. Sie befiel sie wie ein Virus, den weder die Niederschlagung der Solidarność-Bewegung noch die entmutigenden Wechselfälle der Politik kleinkriegen konnten. Sie war es, die ihre Landsleute davon überzeugte, wie sehr es sich lohnte, Leszek Kołakowski oder Bronisław Geremek zuzuhören, nicht nur, um Polen besser zu verstehen, sondern auch, um Europa besser zu verstehen. Wie lohnend es sein kann, ihre universelle Botschaft zu entschlüsseln, wenn Europa den Ehrgeiz hat, zu einer wirklichen und dauerhaften Gemeinschaft zu werden.

Ich möchte alle beruhigen, die jetzt annehmen, ich hätte da etwas durcheinandergebracht, indem ich, anstatt für die Laudatio zu danken, eine andere vortrage. Ich möchte nur betonen, wie eine solche Haltung, die von Gesine Schwan personifiziert wird, uns lehrt, gemeinsame Verantwortung für die Fortentwicklung des Kontinents zu übernehmen. Wenn wir in den letzten paar Jahren die deutsch-polnische Zusammenarbeit „in Europa“ allmählich in eine deutsch-polnische Zusammenarbeit „für Europa“ verwandelt haben, war dies möglich dank der Begründung einer solchen reifen Partnerschaft. Wenn wir in Brüssel zumindest die tiefsten Trenngräben in der europäischen Ostpolitik überwunden haben, hat daran das Weimarer Dreieck beträchtlichen Anteil, die Schaffung eines Konsenses, den anschließend alle Mitgliedsstaaten übernommen haben.

Ich vertrete die These, es gäbe keine solche sichtbare Zunahme der Rolle Polens in der Europäischen Union, eines solchen Boxens über der eigenen Gewichtsklasse, ohne die Jahrzehnte der engen Kontakte zwischen den polnischen und deutschen Zivilgesellschaften. In meinem Dank an die Deutsch-Polnischen Gesellschaften für die Verleihung dieses Preises an mich möchte ich die Meinung riskieren, das Ausmaß, die Beständigkeit und Lebendigkeit der polnisch-deutschen Beziehungen seien im europäischen Maßstab ohne Präzedensfall. Sie stellen auf ihre Weise europäische lieux de mémoire dar. Daran ändern auch nichts die zeitweilige Abkühlung und die Asymmetrien in den Beziehungen oder die Ungleichzeitigkeit bestimmter öffentlicher Debatten in beiden Ländern. Dieses polnisch-deutsche Phänomen hat das Potenzial, das Integrationsprojekt um Erfahrungen zu bereichern, die andernorts genauso nützlich sind, beispielsweise in den Beziehungen der Europäischen Union mit ihren Nachbarn. Aber vor allem könnten sie wohl genutzt werden in einer Situation, in der Europa so sehr auf die Unterstützung seiner Bürger angewiesen ist und ein Gemeinschaftsgefühl sucht, das allem Anschein nach dramatisch geschwunden ist.

Europa ‒ ein Freiheitsprojekt

Was das Gemeinschaftsgefühl angeht, sollte die Europäische Union auf Danzig schauen, ein Symbol des Kampfes um die Freiheit, oder nach unserer Definition: der Auseinandersetzungen über die Wiedergewinnung von Einfluss auf die Wirklichkeit um uns herum. Bekanntlich wird heute der Verlust der Selbstbestimmung am häufigsten als Ursache der Angst der Bürger genannt und als Motiv zu Unterstützung populistischer, oft der liberalen Demokratie abgeneigter politischer Kräfte. In einer unlängst gehalten Rede zur Lage der EU bezog sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf den Enthusiasmus und die Hoffnungen der Polen nach dem Beitritt zur EU im Jahr 2004. Er bekannte sich sehr nachdrücklich dazu, wie lohnend es gerade heute ist, an dieses „europäische“Erlebnis zu erinnern, da die Menschen in vielen Ländern erneut davon sprechen, man müsse die Kontrolle über die Realität wiedergewinnen. Diesmal denken sie, die Kontrolle an den globalen Kapitalismus zu verlieren. Und sie fragen, ob die Europäische Union die Instrumente besitzt, um sie vor den negativen Folgen der Globalisierung zu schützen. Oder sollte es so sein, dass die EU diese Probleme eher vergrößert als löst? Jedenfalls wird das Projekt der Integration auf dem Kontinent davon abhängen, ob es gelingt, die Leute davon zu überzeugen, auf diesem Gebiet seien die Instrumente der EU erfolgreicher als die nationalen.

Es gibt auch eine polnische Version dieser Debatte. In unserem Land glauben die meisten immer noch, Polen würde sich dank der EU schneller entwickeln, und verstehen die Integration nicht nur als Finanzhilfen, sondern als Sicherheit des Staates. Sie befürworten die EU-Standards, weil sie unsere Lebensqualität anheben. Aber die Menschen beginnen zu fragen, ob die uns aus der Phase der wirtschaftlichen Transformation und der „Aufholjagd“ auf den Westen bekannte Situation noch heute anhält, da wir doch mit diesem Westen immer häufiger konkurrieren können? Ob die Regelwerke, durch die wir den Abstand zu den Reicheren wettmachen konnten, uns in gleicher Weise dabei helfen, Zugang zu ihren Märkten zu bekommen, die Chancen auszugleichen, den nächsten Modernisierungssprung zu tun? Oder ist es vielleicht so, dass diese Regelwerke gegenwärtig nur noch die beherrschende Stellung der führenden Unternehmen aus den reichen EU-Staaten verfestigen? Man darf annehmen, die Attraktivität des europäischen Projekts in Polen werde in hohem Grade von den Antworten auf diese Fragen abhängen.

Lassen Sie uns auf die Freiheit und ihre anderen Aspekte zurückkommen, abgesehen von der „Kontrollüberzeugung“ und der Möglichkeit, mutige Reformen einzuleiten. Die Freiheit hat heute keine gute Presse, denn die einen assoziieren damit nur allzu freie Umgangsformen, wie sie angeblich von Brüssel gefördert werden, für die anderen ist sie zum Synonym hemmungsloser Exzesse der internationalen Zusammenarbeit geworden, vor denen Staaten und Demokratien sich immer schwerer schützen können. Aber die Freiheit ist ein zu kostbarer Wert, um zuzulassen, dass sie für solche einseitigen und irreführenden Gedankenspiele eingesetzt wird. Wenn wir das europäische Gemeinschaftsgefühl wiederbeleben wollen, müssen wir der Freiheit ihren guten Namen zurückgeben, denn ohne sie werden alle „identitären“ Projekte nichts mit den bürgerlichen Freiheiten gemein haben. Denn sie schaffen keine Instrumente zum Schutz der Menschenrechte, sondern bringen uns zu einer eng verstandenen, ethnischen Definition von Gemeinschaft.

Die Erfahrung der Wende von 1989 kann hilfreich sein, um die europäische Gemeinschaft wiederzugewinnen. Sie umfasste ein Geflecht aus bürgerrechtlichen und nationalen Bestrebungen, Menschenrechte und Identifikationsbedürfnisse. Vorrangig schuf sie jedoch ein Gefühl grenzüberschreitender wechselseitiger Abhängigkeit und befreite vom nationalen Narzissmus. Bundeskanzlerin Angela Merkel erzählte mir, wie sie 1984 mit einer Gruppe Berliner Universitätsassistenten und Studenten die ganze Nacht mit dem Zug nach Danzig reiste, um in der legendenumwobenen Stadt den Film des legendenumwobenen Regisseurs Andrzej Wajda „Der Mann aus Eisen“ anzuschauen und, wie sie es ausdrückte, „ein bisschen Freiheit zu schnuppern“. Der vormalige Jenaer Dissident Roland Jahn erzählte, die Danziger Solidarność marschierte symbolisch mit ihnen mit, als sie am 9. Oktober 1989 in Leipzig demonstrierten. Auf diesen Hinweis auf die Vorreiterrolle der polnischen Oppositionsbewegung antworten wir, auch wir verfolgten mit geröteten Wangen und voller Hoffnung das Erwachen in der DDR und beteten gemeinsam mit denen, die sich im Frühherbst 1989 in der Nikolaikirche und auf den Straßen von Leipzig versammelten. So entsteht Europa.

Solche Geschichten geben dem Gespräch den notwendigen Impuls, wieso die Gemeinschaft, ihre Grundsätze und Institutionen verteidigt werden müssen. Und sie erklären, wieso wir bei den in Brüssel geführten, häufig sehr technokratischen Debatten nicht vergessen dürfen, dass es in Wirklichkeit um mehr geht. Der tiefere Sinn der Integration, aber auch die Kosten unsolidarischen Verhaltens anderen, etwa den Einwanderern gegenüber, sollte denen leichter klarzumachen sein, die sich an die Teilung Europas und all ihre Folgen erinnern.

In der Krise gerät uns häufig aus dem Sinn, dass die Europäer eher eine „kalte Nähe“ verbindet, sie einander mehr Vorhaltungen machen als Vertrauen entgegenbringen, es scharfe Trennlinien zum Beispiel zwischen Geberländern und Nehmerländern gibt und nationale Interessen mit größerer Unverblümtheit formuliert werden. Das ist sogar verständlich, nur ohne ein stärker verwurzeltes Gemeinschaftsgefühl werden diese Trennlinien toxischer und das normale Eintreten für die eigenen Interessen wächst sich zu nationalem Egoismus aus. Deshalb müssen wir an die integrativen, staatsbürgerlichen Emotionen des Jahres 1989 anknüpfen. Besonders in einer Zeit, in der die Europäische Union an einem Mangel an Rechtfertigung und Gewissheit krankt, ob sie noch gebraucht wird, und ihr Modell der liberalen Demokratie von innen wie von außen untergraben wird.

Europa ‒ eine neue Öffnung

Nach dem Referendum in Großbritannien kam die Meinung auf, es handle sich dabei um ein Fanal der europäischen Konterrevolution, und die europäischen Führungen sollten reuig ihre Schlüsse aus dem Verdikt der pragmatischen Inselbewohner ziehen. Wir haben es mit der historischen Tatsache des ersten EU-Austritts zu tun, und gewiss wird die EU dies schwer erschüttern. Niemand stellt infrage, ob man den Ursachen der Unzufriedenheit in den Gesellschaften nachgehen und die europäischen Ideale von Grund auf neu überdenken muss. Doch sollte daran erinnert werden, wie lange vor dem Referendum die Europäische Union ihre Schwächen kannte. Zudem hat die EU wirklich viel dafür getan, London entgegenzukommen und die Erwartungen der Menschen zu erfüllen: Sie schlug Lösungen vor, welche ihre Zweifel am Verbleib in der EU hätten zerstreuen sollen. Leider wurde diese Argumentation in der Referendumskampagne nicht eingesetzt. All das zeigt, dass die Ursachen für die Stimmungen in Großbritannien komplexer waren.

Wenn eine Lehre aus dem Brexit zu ziehen ist, dann die: Die Europäische Gemeinschaft wurde als Geisel innenpolitischer Frustrationen missbraucht. Deshalb fällt es schwer, die „begründete Kritik“ der Briten vorbehaltlos zu akzeptieren, denn das würde bedeuten, wir akzeptieren die Logik, es sei zu parteipolitischen Zwecken gerechtfertigt, Märchen zu erzählen und skrupellos den Ruin der europäischen Vision zu betreiben.

Die EU muss auf ein positives Programm setzen, um Vertrauen und Selbstgewissheit wiederherzustellen. Ohne es für notwendig zu halten, andere mit den negativen Folgen zu verschrecken, wenn sie die Gemeinschaft verlassen sollten. Daher muss die EU sich jetzt vor allem damit befassen, wie die Zusammenarbeit der verbleibenden 27 europäischen Staaten gestaltet werden soll.

Die Europäische Union war niemals so tief gespalten wie zurzeit. Zu der Trennlinie zwischen Nord und Süd vor dem Hintergrund der Finanzkrise traten die Spannungen zwischen Ost und West aufgrund der Migrationskrise; auf die Schließung der Reihen innerhalb der Visegrád-Gruppe antworteten die zur Eurozone gehörenden Mittelmeeranrainerstaaten, und die sechs Gründungsmitglieder begannen nach dem britischen Referendum auf eigene Faust, nach einem Ausweg zu suchen. Folge dieser und weiterer Initiativen ist ein Missklang widerstreitender Vorschläge: von der Vertiefung über die elastische Integration bis hin zu einem bloßen losen Staatenverband. Während alle Gräben um ihre eigene Räson ziehen und sich gegenseitig die Schuld an der Misere zuschieben, gibt es auf dem Kontinent keine Chance, einen Vorschlag zu formulieren, der mehrheitsfähig wäre. Die Parole des Augenblicks scheint zu sein, den Trend zur Bildung von Gruppen mit widerstreitenden Interessen fortzusetzen. Bei der Erarbeitung eines gemeinsamen Ziels müssen natürlich nationale Politiker, Staatschefs, aktiv beteiligt sein, aber es wird nicht ausreichen, nur naheliegende internationale Allianzen zu bilden – der Geber- und Nehmerstaaten beziehungsweise der Befürworter von Haushaltsdisziplin oder einer lockeren Finanzpolitik. Daraus wird kein Europa entstehen. Der Stärkung der Gemeinschaft ist durch inklusive Debatten und Staatenbündnisse besser gedient, die sich über die offenkundigen Trennlinien hinwegzusetzen verstehen.

Die in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung Polens rührte gerade daraus, dass es solche Rollen übernahm ‒ die eines Mittlers zwischen den Staaten der Eurozone und den übrigen, eines Befürworters der Haushaltsdisziplin und mutiger Reformen, der entgegen seiner Geografie zum europäischen Norden gerechnet wird, und vor allem die eines Landes, das im Rahmen der „Weimarer“ Zusammenarbeit mit Deutschland und Frankreich immer größere Verantwortung für die EU-Politik übernimmt. Im Angesicht der für die Zukunft bedrohlichen Trennlinien hätte auch heute das Weimarer Dreieck eine wesentliche Rolle zu spielen. Darüber hinaus lässt sich folgende These wagen: So wie der Durchbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen (wir begehen den 25. Jahrestag des Nachbarschaftsvertrags!) den Weg zur Vereinigung Europas gebahnt hat, so könnte auch heute das deutsch-polnische Tandem den sich am Horizont abzeichnenden Szenarios einer Fragmentierung oder gar eines Zerfalls der EU vorbeugen.

Die Europäische Kommission schlägt einstweilen vor, sich auf einige Projekte zu konzentrieren, die auf die dringendsten Erwartungen der Bürger reagieren, sie zusammenbringen können und der EU dabei helfen, Vertrauen wiederzugewinnen. Was trennt, muss vorläufig warten. Die kürzliche Rede des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker kündigte derartige Maßnahmen an. Die Menschen müssen davon überzeugt werden, dass die EU-Instrumente, effektiv angewandt, eine Antwort auf das Gefühl der Unsicherheit bei den Bürgern sein werden, das durch Terrorismus, Migrationsdruck und niedrige Wachstumsraten hervorgerufen wird. Brüssel setzt darauf, die neue Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache schnell funktionsfähig zu machen; die Verdoppelung der Mittel für ein Investitionsprogramm ist bereits beschlossen. Die Einrichtung eines Europäischen Solidaritätskorps aus jungen Freiwilligen zum Hilfseinsatz in Katastrophengebieten soll zeigen, dass die Europäische Union ein Verband von Menschen und nicht nur Regierungen ist. Erst dann kann die Rede von Zukunftsvisionen und einem „neuen Anfang“ in den Augen der Bürger Sinn und Aussicht auf Erfolg haben.

Dieser Appell zu verstärkter Aktivität reicht jedoch nicht aus und bedeutet keine einfache Fortsetzung des Bisherigen. Wir können die Augen vor der Anzweifelung vieler Abhängigkeiten nicht verschließen, die wir als unaufhebbar angenommen und auf die wir unsere Aktionspläne aufgebaut haben. Wir glaubten unerschütterlich an die Transformationskraft der EU-Erweiterung, während die Nachbarn Einfluss auf uns gewannen ‒ anstatt Werte zu exportieren, importierten wir häufig das Chaos. Anstatt die Schicksalsgemeinschaft auf eine feste Grundlage zu stellen, beobachten wir, wie die europäische Solidarität zerbricht, und die wechselseitige Abhängigkeit, die Konflikte begrenzen sollte, erweist sich als deren neue Ursache; die vergifteten Debatten und Argumente, die das im Zweiten Weltkrieg zugefügte Unrecht während der schwersten Krise der Eurozone heraufbeschworen, um nur ein Beispiel zu nennen. Aus diesem Grunde können wir es nicht vermeiden, erneut über vermeintliche Gewissheiten nachzudenken und am europäischen Projekt Korrekturen vorzunehmen. Wir brauchen ein Europa der richtigen Antworten auf die neuen Ursachen der Unzufriedenheit. Die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener Gestalt ‒ Globalisierung, Europäisierung ‒ brachte neben einem ganz unwahrscheinlichen Fortschritt auch völlig neue Bedrohungen. Wir waren außerstande, sie früher zu kennen, daher haben wir vorläufig keine ausreichenden Instrumente, um damit fertig zu werden.

Der gegenwärtige Konsens beruht augenscheinlich auf drei Bestandteilen: So viel wie möglich von den europäischen Errungenschaften bewahren, die Desintegration aufhalten und die Zusammenarbeit vertiefen, wo immer möglich. Bisher hat sich die Europäische Union bei Krisen durch die Flucht nach vorn geholfen. Heute erscheint als einzige Möglichkeit, noch vorwärtszukommen, zu akzeptieren, wie viele unterschiedliche Formen der Integration es gibt, und bei verschiedenen Projekten eine Einteilung in Staatengruppen zuzulassen. Eine elastische Mitgliedschaft kann die zentrifugalen Tendenzen stoppen und den Zusammenhalt verstärken, obwohl das wie die Quadratur des Kreises klingt. Aber es gibt wohl keinen anderen Weg, wenn wir verhindern wollen, dass die EU auf einen kleinen Kern zusammenschrumpft.

Wir müssen dabei bedenken, dass die Kosten einer differenzierten Integration möglicherweise hoch sein werden. Wenn man sie auf reine Finanztransaktionen reduziert, schwächt das die Solidarität und das Vertrauen, verkompliziert den Entscheidungsprozess und überträgt im Endeffekt die Verantwortung für die EU-Politik auf einen kleinen Kreis der Mitgliedsstaaten. Wir wissen doch, alle Ausnahmen und „Ausschließungen“ für Großbritannien haben eher zur Erosion des Verpflichtungsgefühls und der Interessengemeinschaft geführt.

Die Europäische Union war immer ein Dilemma, eine „schöpferische Spannung“ zwischen der Rolle der Mitgliedsstaaten und der Institutionen, und sie fand scheinbar unmögliche Lösungen. Aber, wie unlängst der polnische Autor Eustachy Rylski sagte, „keine menschliche Unternehmung gelang je so wie die Vereinigung Europas. [...] Das ist keine ideale Schöpfung und ‒ zum Trost der Unzufriedenen ‒ wird es auch nie sein, aber was getan werden konnte, wurde getan. Nur dass die in diese Konstruktion eingeschriebene Fragilität zu ihrer Natur gehört und keine Entartungserscheinung ist. Die Hoffnung, die Europäische Union werde im Laufe der Jahre stärker, ist eine Illusion selbst derer, die zu ihrer Führung abgestellt sind. Sie wird niemals stark werden. Es handelt sich um ein empfindliches Gleichgewicht. Mit dieser Schöpfung muss man gut umgehen. In den Händen von Schlächtern oder Idioten wird sie vor die Hunde gehen.“

Die Polen und die Deutschen haben keinerlei Interesse daran, dass das passiert.

Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

 

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