Editorial DIALOG | Ausgabe 108

Basil Kerski, Chefredakteur
Basil Kerski, Chefredakteur

 

Kulturelle Vorurteile beeinflussen unsere Wahrnehmung von Kontinenten, Regionen und Nationen, sie versperren oft den Blick auf kulturelle Vielfalt und kulturelle Verwandtschaften. Der in Polen geborene englische Schriftsteller Joseph Conrad polemisierte 1919 in seinen Lebenserinnerungen mit der Vorstellung einiger britischer Kritiker, sein literarisches Werk sei nicht nur von der westeuropäischen Kultur geprägt, in seinen englischen Romanen und Erzählungen komme durch seine polnische Herkunft auch das „Slawentum“ zum Ausdruck. Conrad bestätigte zwar seine enge Verbindung zur polnischen Kultur, widersetzte sich aber der Vorstellung vom einheitlichen Kulturraum des „Slawentums“. Mit seiner Wertschätzung für die Rechte des Individuums, die Tradition der Selbstverwaltung sei dem „polnischen Temperament“, so Conrad, nichts so fremd wie das westliche Stereotyp vom „Slawentum“. Conrad betonte die traditionellen intensiven Kontakte der polnischen Kultur mit dem Westen, vor allem mit Italien und Frankreich. Eine Blütezeit der Kultur, in der Polen in einen regen Austausch mit dem westeuropäischen Humanismus trat, war das 16. Jahrhundert, die Zeit der polnischen Renaissance. Die kulturelle Symbiose umfasste damals sowohl die Sprache, die Bildung, das politische Denken und die Architektur, als auch so profane Bereiche wie die Küche. Dank Bona Sforza, der italienischen Gattin des polnischen Königs Sigismund I., gelangten im 16. Jahrhundert aus dem Süden Europas Nudeln und neue Gemüsesorten auf polnische Tafeln, darunter Tomaten, Blumenkohl, Brokkoli, Salat und Spinat. Italiener veränderten nicht nur die Küche des östlichen Mitteleuropas, sondern vor allem die Architektur Krakaus, Warschaus, Posens und Lembergs. Es entstanden Paläste wie Baranów Sandomierski oder Krasiczyn, Idealstädte der Renaissance wie Zamość, Sandomierz oder Kazimierz Dolny. In dieser DIALOG-Ausgabe laden wir Sie zu einer Reise in Zeit und Raum zu den baulichen und kulturellen Zeugnissen der polnischen Renaissance ein. Eröffnet wird dieser Themenschwerpunkt mit einem Essay des Historikers Hans-Jürgen Bömelburg. Durch das Zusammentreffen humanistischer Strömungen des westlichen Europas mit Polens Kultur sei im 16. Jahrhundert ein Zivilisationsmodell entstanden, so Bömelburg, das auf weite Bereiche Mittel- und Osteuropas ausgestrahlt habe. Bömelburg erinnert daran, dass die polnische Sprache in dieser Zeit zu einer lingua franca im östlichen Europa wurde, mit der partizipative und republikanische Ideen weite Verbreitung auf einem Gebiet fanden, das heute neben Polen und Litauen auch Belarus sowie die West- und Zentralukraine umfasst.

Basil Kerski

 

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