Editorial DIALOG | Ausgabe 101

Basil Kerski, Chefredakteur Deutsch-Polnisches Magazin DIALOG
Basil Kerski, Chefredakteur

 

Lieu de mémoire, Erinnerungsort, miejsce pamięci - ein Begriff macht seit vielen Jahren Karriere in Europa. Der französische Historiker Pierre Nora hat diesen Begriff in die europäische Mentalitätsforschung eingeführt. Mitte der 1980er Jahre veröffentlichte er die ersten Bände seines Projektes zur französischen Erinnerungskultur. Pierre Nora suchte nach einer Perspektive für die kritische Auseinandersetzung mit der Identität und dem kollektiven Gedächtnis der Franzosen. Also definierte er besondere "Orte der Erinnerung", an denen sich die Erinnerung der französischen Nation kristallisiert hat.

Den Begriff "Ort" versteht Nora nicht nur geografisch. Mythische Gestalten, Ereignisse, Institutionen, Begriffe, Bücher oder Kunstwerke können auch als ‚Erinnerungsorte‘ eine besondere symbolische Bedeutung besitzen und damit für eine Gruppe identitätsstiftend sein. Die von Nora in einem siebenbändigen Werk zusammengetragenen französischen Erinnerungsorte haben in den letzten Jahrzehnten viele Wissenschaftler in Europa inspiriert. So veröffentlichten Hagen Schulze und Etienne François 2001 drei Bände über deutsche Erinnerungsorte. Darin findet sich unter anderem Joachim Fests Essay über den "Führerbunker".

Ein Text mit Folgen, denn Fest blieb am Thema und veröffentlichte ein Jahr später das Buch "Der Untergang" über das Ende des Dritten Reiches, das die Grundlage für Oliver Hirschbiegels gleichnamigen, umstrittenen Spielfilm bildete. Von Pierre Noras Begriff der Erinnerungsorte sind auch die beiden Historiker Robert Traba und Hans Henning Hahn inspiriert worden. Sie haben vor fünf Jahren gemeinsam mit Kornelia Kończal und Maciej Górny mit der Arbeit an der Erforschung der deutsch-polnischen Erinnerungslandschaft begonnen. Der erste von acht Bänden des Projektes "Deutsch-polnische Erinnerungsorte" ist in diesem Jahr erschienen - Anlass für uns, um das Projekt in dieser DIALOG-Ausgabe noch vor seinem Abschluss einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. 130 Autoren sind an diesem ambitionierten Projekt des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin beteiligt. Der hier erstmals angewandte bilaterale Ansatz der Erinnerungsforschung hinterfragt nationale Vorstellungen, entwickelt neue vergleichende Perspektiven und macht gleichzeitig Nähe und Distanz der Nachbarschaft bewusst. Trabas und Hahns Projekt will eine neue Perspektive auf den Nachbarn und gleichzeitig auf die jeweils eigene Geschichte eröffnen.

Basil Kerski

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