Mitteleuropäische Dystopie

Aleksander Kaczorowski

Mitteleuropäische Dystopie (Ausgabe 117)

Der alte mitteleuropäische Mythos, der im Endstadium des Kommunismus erstarkte und dessen Kern die Idee von der erneuten Verankerung im Westen war, wird heute durch eine mitteleuropäische Dystopie verdrängt. Gemeint ist eine düstere Vision von autarken, ethnisch homogenen Gesellschaften, die nur darauf bedacht sind, den bisherigen Lebensstil zu wahren – ohne Flüchtlinge, mit einem starken Sozialstaat, mit nationalem Kapital und ebensolcher Wirtschaft. In einer radikalen Ausprägung dieser Vision gerät Mittteleuropa zum letzten Bollwerk der „Normalität”, hinter dem sich die „weiße Rasse“ verschanzen kann, wohin schon bald Menschen aus Westeuropa Zuflucht suchen werden. Es ist ein Damm, der Schutz bietet vor Multikulti und linkem Gutmenschentum, vor der deutschen Übermacht und Globalisierung.

Folgt man den Meinungsumfragen, lehnt die große Mehrheit der Bürger Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns die Aufnahme von einigen Tausend Flüchtlingen ab, die in den Auffanglagern in Griechenland und Italien feststecken. Glaubt man den Politikern, so lässt sich die ablehnende Haltung zur Umverteilung von Flüchtlingen mit dreierlei Gründen erklären: der immer wieder beschworenen Terrorbedrohung, dem Unmut über das übermächtige Deutschland und dem Widerstand gegen die Vorstöße (so es diese überhaupt gibt), der Migrationspolitik dieser Länder die Richtlinien der Europäischen Kommission überzustülpen.

Sind das schon Anzeichen für eine neue regionale Solidarität? Die Visegrád-Staaten sind sich vorerst lediglich in dieser einen Frage einig – in der Abneigung gegenüber den muslimischen Flüchtlingen. Solch negative Emotionen werden den weitaus zahlreicheren Ankömmlingen aus der Ukraine oder Vietnam, ja selbst aus Russland allerdings nicht entgegengebracht. Wobei die Ängste nicht in erster Linie den Muslimen gelten, die aus dem Nahen Osten oder Nordafrika nach Mitteleuropa gelangen sollten. Gemeint sind eher diejenigen, die sich bereits in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern aufhalten.

Bedenkt man die bisherige Migrationspolitik der Visegrád-Staaten, sind diese Ängste keinesfalls berechtigt, sie resultieren eher aus dem Druck, den Massenmedien erzeugen. Immerhin wirken sie sich in hohem Maße auf die Innen- und Europapolitik dieser Länder aus und halten als Schutzschild der antiliberalen Konterrevolution her, die aus den Tiefen der lokalen Politik gehoben und auf regionaler Ebene hoffähig gemacht wird. Dieser Vorstoß gefährdet den Zusammenhalt der Europäischen Union.

An dieser Stelle sei daran erinnert, wieso ein gemeinsames Vorgehen der Länder der Visegrád-Gruppe gegen die EU-Flüchtlingsquote zu den prioritären Aufgaben der polnischen Präsidentschaft in der V4-Gruppe (vom 1. Juli 2016 bis 1. Juli 2018) gehört. Dies ist die einzige Forderung, die von allen der beteiligten Länder der Region ohne Wenn und Aber begrüßt wird, und zwar mit einer Beharrlichkeit, die Besseres verdient. So etwa die von der Ministerpräsidenten Beata Szydło erwähnte und der Prioritätsliste hinzugefügte Stärkung der Nato-Ostflanke oder der Ausbau der grenzüberschreitenden Energieinfrastruktur (mit der man den von Kreml und deutschen Konzernen sowie von anderen westeuropäischen Ländern vorangetriebenen Plänen zum Bau der Nord Stream 2-Pipeline entgegentreten will).

Doch diese mythenumrankte Solidarität hört da auf, wo es auf Konkretes ankommt. Entgegen den wiederkehrenden

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