Karl Dedecius - Ein Europäer aus Lodz

Allen Anfeindungen der letzten zwanzig Jahre zum Trotz ist die Autobiographie beim deutschen Leser nach wie vor eine der beliebtesten Literaturgattungen. Dies gilt auch und gerade für Personen des Zeitgeschehens, deren Wirkung sich über mehrere Jahrzehnte entfaltete und die gleichsam zu Synonymen für die Sache geworden sind, die sie vertreten haben und immer noch vertreten. Eine solche Figur der Zeitgeschichte ist zweifellos der Übersetzer Karl Dedecius, der viel geehrt und bewundert am 20. Mai dieses Jahres seinen 85. Geburtstag begangen hat. 

Von Gestalten wie ihm, der zum Symbol für die deutsch-polnische Annäherung nach 1945 geworden ist, hat man über viele Jahre erwartet, dass er seine Erinnerungen verfasst: viele haben ihn explizit dazu aufgefordert - der Verfasser dieser Besprechung gehörte auch dazu. Dedecius zögerte lange. Nun hat er doch - in Zusammenarbeit mit der Journalistin Doris Liebermann - dieses Buch vorgelegt, in dem er sein Leben, das so typisch für das vergangene Jahrhundert ist und doch so anders, erzählt. Eine umfangreichere polnische Ausgabe soll im Herbst folgen. 

Karl Dedecius wurde 1921 in Lodz als zweiter Sohn einer - heute würde man sagen - Migrantenfamilie geboren. Die Vorfahren des Vaters kamen ursprünglich aus Böhmen, entzogen sich der religiösen Verfolgung als Protestanten durch die Flucht nach Schlesien und kamen vom "Gelobten Land" angelockt schließlich in die boomende Industriestadt Lodz; die Vorfahren der Mutter waren schwäbische Kolonisten aus der Heilbronner Gegend, die ebenfalls den Weg nach Osten fanden. Karl wuchs unter nicht ganz einfachen familiären Verhältnissen auf. Offen beschreibt er, dass seine beinahe schon bigott religiöse Mutter nicht in der Lage war, ihm so etwas wie Liebe zu vermitteln, vielleicht die Folge des plötzlichen Todes seines älteren Bruders als Kleinkind. Dagegen erscheint der Vater als Gegenmodell, ein weltoffener, den Künsten zugewandter Beamter der Lodzer Sittenpolizei. Das Umfeld der Familie ist in erster Linie ein polnisches. Das gilt nicht nur für die Schule, sondern auch für den Freundeskreis. Die Familie Dedecius empfand sich immer als dem deutschen Volk zugehörig, Deutschland selber kannte man dagegen gar nicht und hatte auch keinen Bezug dazu. Dedecius als Kind war offenbar eher ein Außenseiter - was sich in der Jugend gelegt zu haben scheint -, der sich vor allem für Musik und Theater interessierte. Er erlernte verschiedene Instrumente und beabsichtigte, Theaterwissenschaften zu studieren. Der Krieg kam dazwischen. 

Dedecius ist ein Angehöriger der Kolumbus-Generation, ein Begriff, der nach dem Roman Roman Bratnys üblicherweise vor allem auf die Polen angewandt wird, die um das Jahr 1920 geboren wurden und die als junge Erwachsene vom Krieg überrascht wurden, der ihr Leben entscheidend verändern, teilweise auch gewaltsam beenden sollte. Diese Prägung war ihm immer bewusst, im Grunde genommen rührt ein Großteil seiner übersetzerischen Tätigkeit daher, dass er Angehörige seiner Alterskohorte übersetzte: Tadeusz Różewicz und Zbigniew Herbert, Wisława Szymborska und Krzysztof Kamil Baczyński, Karol Wojtyła und Władysław Sebyła. 

Das Lodz seiner Jugend war eine multiethnische Stadt nicht ohne Konflikte, von denen wir in dem Buch nichts lesen, vermutlich waren sie aber dem homo non-politicus Karl Dedecius auch nicht bewusst. Er selber wuchs in einer Atmosphäre der Toleranz auf, durchaus eher der polnischen Kultur zuneigend, besser Polnisch als Deutsch sprechend - eindrucksvoll schildert er, welche Schwierigkeiten er nach 1945 mit der deutschen Sprache hatte - und sich allmählich dem polnischen Milieu akkulturierend, bis hin zu seinem Abitur am polnischen ˚eromski-Gymnasium und der Tätigkeit im polnischen Arbeitsdienst 1939. Vom Kriegsausbruch wird er in Nordostpolen völlig überrascht: "Mein Selbstwertgefühl war tief gesunken. Ich lebte mittendrin und hatte von all dem nichts gewusst, nichts gehört, nichts gesehen und nicht einmal geahnt. Wie war das möglich? Am Leben vorbeigelebt? Das recht ansehnliche Abiturfoto verzerrte sich zur Karikatur: der deutsche Michel, die Schlafzipfelmütze lächerlich tief über beide Augen und Ohren gezogen." Dedecius gelangt nach Lemberg, wo er schwer erkrankt und erst nach einigen Monaten wieder nach Lodz zurückkehren kann. Dort arbeitet er für kurze Zeit in einer Behörde, lernt seine spätere Frau Elvira kennen und wird dann 1941 zur Wehrmacht eingezogen. Nach längerer Tätigkeit als Heeresmusiker wird er im Sommer 1942 an die Ostfront geschickt und gerät in den Stalingrader Kessel. Im Februar 1943 wird er von den Sowjets gefangen genommen und verbringt die nächsten sechs Jahre in verschiedenen Lagern. Die Schilderungen des "Alltags" im Schützengraben und der Jahre hinter dem Stacheldraht gehören zu den Glanzlichtern des Buches. Dedecius erspart dem Leser die fürchterlichen Details nicht, auch wenn das "gnädige Vergessen" vieles aus seinem Gedächtnis gelöscht hat. Aus diesem Erleben wird deutlich, warum er sich bis heute immer wieder so intensiv und engagiert für den Frieden eingesetzt hat und als radikaler Kriegsgegner aufgetreten ist. Ihm ist klar, dass es im Grunde genommen ein Wunder ist, dass er überhaupt überlebt hat. Im sowjetischen Lager entdeckt er das Russische, ganz pragmatisch als Umgangs-, aber auch als Literatursprache. Er beginnt zu übersetzen. Der Band enthält Auszüge aus seinem Gefangenentagebuch. Dabei mag manches nachträglich stilisiert sein, doch zeigt sich darin die ganze Kraft der Kultur als Überlebenselixier im Angesicht von Krankheit und Sterben ringsherum. Im Lager erfährt Dedecius 1947 vom Tod seines Vaters - die Mutter war schon während des Krieges an Krebs gestorben. Die Umstände sind bis heute unklar, vermutlich brachten ihn Kriminelle aus Lodz in den letzten Kriegstagen um. Dedecius schildert seine Trauer, das Trauma, nicht Abschied nehmen zu können, mit bewegenden Worten: "In dem Vorstadthäuschen fanden sie einen alten, wehrlosen Mann und erschossen oder erstachen ihn. Niemand weiß, wann, wie und warum. Nun liegt er, der unbekannte Zivilist, mein Vater, in einem unbekannten Loch oder Massengrab verscharrt, irgendwo in der Stadt oder außerhalb, in dem engen Radius mit dem kleinen Horizont, den er nie verlassen wollte. Ein Preis der Musilschen Stete. Der Treue." 

Als Dedecius 1949 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wird, "kehrt er in ein fremdes Land zurück": die Familie seiner Verlobten hatte sich nach Thüringen geflüchtet. Dem völlig mittellosen Kriegsheimkehrer scheinen sich nun neue Chancen im Kulturleben zu eröffnen, in Weimar gerät er relativ rasch an das Deutsche Theater-Institut und beginnt neben später Prominenten wie Götz Friedrich und Willy Semmelrogge zu arbeiten. Die Angst vor der Enge des kommunistischen Systems, die bis zum Gefühl persönlicher Bedrohung reicht, treibt ihn und seine Familie jedoch bald nach Westen. Es beginnt nun seine eigentliche Karriere als Angestellter des Allianz-Konzerns, Übersetzer, Kulturvermittler und schließlich Gründer und Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, die allgemein bekannt ist. 

Der zweite Teil des Buches ist seinen Freundschaften mit polnischen Schriftstellern und seinen Erfolgen gewidmet. Es mag sein, dass der Rezensent hier voreingenommen ist, weil er die meisten Geschichten schon einmal gehört hat, aber diese Schilderung kann mit der Dichte der Jahre zuvor nicht mithalten. Zweifellos sind einige Episoden ergreifend, es wäre allerdings angebracht gewesen, wenn der Verlag darauf hingewiesen hätte, dass sie teilweise schon an anderer Stelle publiziert worden sind, etwa die Porträts von Stanisław Jerzy Lec oder Julian Przyboś. Jedoch ergänzt Dedecius diese älteren Skizzen um einige neue, zum Beispiel in der Beschreibung des Verhältnisses zu Czesław Miłosz oder der schwierigen Freundschaft mit Zbigniew Herbert. Sein Lebenswerk, das Deutsche Polen-Institut, findet eher in organisatorischer Hinsicht auf knapp 30 Seiten Erwähnung. Diese Selbstbeschränkung verwundert etwas, bezeichnet Dedecius doch selber die Darmstädter Jahre als seine glücklichste Zeit. In kultureller Hinsicht brauchte das Olbrich-Haus auf der Mathildenhöhe den Vergleich mit der legendären Villa in Maisons-Laffitte nicht zu scheuen und auch sonst gibt es gewisse Parallelen zwischen einem Karl Dedecius und einem Jerzy Giedroyc. Man hätte gerne noch mehr erfahren über die Kontakte aus jener Zeit, generell über die Kontakte zu Angehörigen des polnischen Exils, über Dedecius' Gutachten für das Stockholmer Nobelpreis-Komitee. Statt dessen geht in diesem Teil, wie in den letzten Kapiteln, über die Fülle der Ehrungen, die er erfahren hat, die persönliche Eitelkeit doch etwas sehr mit Dedecius durch, wohingegen er die Schwierigkeiten, auf die er stieß, bis auf kleine Seitenhiebe auf Helmut Schmidt weitgehend ausblendet. Es ist freilich nur allzu verständlich und zeugt von einem etwas aus der Mode gekommenen Verständnis von Etikette, dass er seinem früh verstorbenen Freund, dem gebürtigen Breslauer und späteren Darmstädter Oberbürgermeister Heinz Winfried Sabais noch einmal dankt und dessen menschlich mehr als problematischen Nachfolger mit Schweigen übergeht. 

Insgesamt gesehen ist Karl Dedecius kein Meister der langen Form und er weiß das. Seine Stärke war immer das Kurze, Prägnante, Lyrische, eher das Nocturne als die Oper. Nicht zufällig war der große Lodzer Dichter Julian Tuwim sein Vorbild. Wer ihn beim Vortragen von Gedichten, Aphorismen oder Ähnlichem beobachtet hat, erkannte sogleich seine Liebe zu Musik, Sprache und Rhythmus. Als Romanautor ist er dagegen nur schwer vorstellbar. Darunter leidet teilweise auch seine Autobiographie, die nicht immer die wünschenswerte Kohärenz aufweist. Die eingestreuten historisch-politisch Informationen sind doch eher im Referatsstil verfasst, für den "normalen" deutschen Leser aber vermutlich unvermeidlich. Nichtsdestotrotz liest sich das Buch recht flüssig, es ist sorgfältig lektoriert (lediglich aus dem Kulturpolitiker Barthold C. Witte wurde ein "Bernhard" Witte) und es bietet vor allem die Chance dafür, Dedecius als Mensch neu zu entdecken. Dies gilt vor allem für die Beschreibung seiner Kindheit und Jugend, aber auch in seiner Liebe zu Russland und seinen Dichtern, die in den bisherigen Würdigungen immer etwas zu kurz gekommen ist, dabei war er doch der Entdecker des kürzlich verstorbenen Gennadij Ajgi und Übersetzer von Majakowski und Brodsky... 

Man sollte dieses Buch trotz seiner Schwächen lesen, denn Persönlichkeiten wie Karl Dedecius sind rar geworden in unserer Zeit. Vielleicht sollte man vergleichen mit der Nachkriegskarriere eines anderen großen Vermittlers, dessen Vater den gleichen Nachnamen trug wie die Mutter von Dedecius, dem Antagonisten und Altersgenossen aus Włocławek, der im Buch nicht vorkommt, dessen Verdienste um die Literatur dennoch vergleichbar sind. 

Das Eintreten für eine deutsch-polnische Versöhnung ist dabei für viele heute etwas so Selbstverständliches, dass man es gar nicht mehr für würdigenswert hält. Welch ein Irrtum! Kein geschichtlicher Prozess ist unumkehrbar, leider. Um so dankbarer müssen wir Karl Dedecius sein, dass er sich in schwierigen Zeiten auf den Weg gemacht hat, uns allen Polen nahe zu bringen. 

Markus Krzoska 
Historiker, Mitherausgeber von "Inter Finitimos. Jahrbuch zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte"