Leseprobe Ausgabe 111

Debatte im BuchBund

Oberschlesische Identitäten (Nr. 111)

Basil Kerski im Gespräch mit Michał Olszewski, Sebastian Rosenbaum und Marcin Wiatr

Bei der Volkszählung in Polen 2001 kam es zu einer großen Überraschung: Etwa 180.000 Menschen haben die Beamten aufgefordert, die schlesische Nationalität einzutragen, obwohl sie in den Fragebögen nicht vorgesehen war. Zehn Jahre später gab es wieder eine Volkszählung, und nach dieser bekannten sich schon etwa 800.000 zum schlesischen Kulturraum. Die Volkszählungen haben das Interesse vieler Polen auf die Frage nach der schlesischen Identität gelenkt. Zudem ist die Region mit ihrer Identität durch die starken Stimmen herausragender jüngerer und älterer Künstler wie der Schriftsteller Wojciech Kuczok und Szczepan Twardoch oder des Filmemachers Kazimierz Kutz in der polnischen Kultur präsent. Die Woiwodschaften Schlesien und Oppeln sind Regionen der Innovation, des ökonomischen Aufbruchs, aber auch alter Probleme, vor allem der Umstrukturierung der Bergbau- und Stahlindustrie. Hinzu kommt ein neuer, politischer Faktor: die Bewegung für die Autonomie Schlesiens (RAŚ) kämpft für eine stärkere Dezentralisierung Polens und mobilisiert nationalistische Kräfte in Polen.

 

Basil Kerski: „Es gibt in Polen Menschen, die keiner versteht. Die Mehrheit der Nation versteht sie nicht, aber auch ihre nächsten Nachbarn verstehen sie nicht. Das sind Schlesier“, beobachtete vor einiger Zeit treffend der polnische Publizist Stefan Bratkowski. Herr Wiatr, Sie sind Autor eines literarischen Reiseführers zu Oberschlesien, der im August 2015 auf Deutsch im Verlag des Deutschen Kulturforums östliches Europa erscheinen wird. Wenn von Schlesien, genauer gesagt von Oberschlesien und Oberschlesiern gesprochen wird, von was für einem Kulturraum ist dann die Rede? Sind Oberschlesier eine homogene Gruppe, Oberschlesien ein Kulturraum?

Marcin Wiatr: Ich frage mich auch oft, was Oberschlesien charakterisiert. Es ist eine Region, die stets im Wandel begriffen war und ist. Und da ist nicht nur die Zäsur 1945 wichtig, sondern auch schon 1918, 1921, 1922 – der Erste Weltkrieg, die Volksabstimmung, bei der die Oberschlesier gefragt wurden, wer sie denn eigentlich seien und zu welchem Staat sie gehören wollten. 1921 haben viele diese Fragen nicht verstanden, sie sahen sich als Oberschlesier und mussten sich bisher nicht so klar zwischen Deutschland und Polen entscheiden. Das war letzten Endes eine als tragisch empfundene Entscheidung, vor die Oberschlesier im Zuge des Ersten Weltkrieges in dieser Region gestellt wurden. Und wenn sie – übrigens bis heute – vor diese Entscheidung gestellt werden, dann sind sie unglücklich. Denn es gibt keine klare Trennung.

Deshalb würde ich sagen, Oberschlesierinnen und Oberschlesier sind Menschen, die wirklich nicht genau wissen, ob sie nur deutsch oder nur polnisch sind. Sie können sich mit dieser Frage gar nicht versöhnen. Denn was heißt das, gerade heute in Europa, zu sagen: „Ich bin Pole, nur Pole“? In dieser Region geht es europäisch zu, man trägt das Deutsche und das Polnische in sich, und das wird als eine normale Entwicklung angesehen. Oberschlesien ist auf der Suche nach sich selbst, und das ist mit Abstand die vielleicht einzige Region in Polen, die auch so viele Emotionen hervorruft – gerade deshalb, weil sie vor allem in diesem nationalen Sinne so schwer zu fassen ist. Das, was in Oberschlesien als europäisch gilt – regionale Identität, in der sich tschechische, jüdische, polnische, böhmische, deutsche Elemente begegnen und überlappen – wird in Polen als gefährlich, nationalistisch oder separatistisch angesehen.

Basil Kerski: Wie sind Sie mit dieser Schwierigkeit der geographischen und kulturellen Eingrenzung Oberschlesiens bei Ihrem Reiseführer umgegangen? Sie erschaffen mit ihrem Buch eine Kulturlandschaft und spiegeln damit die Besonderheit der Region wider …

Marcin Wiatr: Ich versuche, das ans Licht zu bringen, was durch Unwissen oder durch Verfälschungen verschüttet wurde. Nennen wir zum Beispiel Schulbücher in Polen, die kaum dazu beitragen, dass Schüler in Polen tatsächlich überhaupt etwas über die Region erfahren. Ich arbeite am Georg Eckert Institut in Braunschweig, das sich mit der internationalen Schulbuchforschung befasst, danach fragt, was die europäischen und auch außereuropäischen Schulbücher heute erzählen, wo es Konflikte oder vielleicht Stellen gibt, die künftige Konflikte eigentlich vorprogrammieren – denken Sie an das Stichwort „Krieg entsteht in den Köpfen“. Ich habe 120 Geschichtsschulbücher analysiert, die in Polen seit 1989, also in der Demokratie erschienen sind, und mich dabei gefragt, wie es eigentlich um das Bild Oberschlesiens bestellt ist: Wird diese Region neu erschlossen, als europäischer, multiethnischer Raum vermittelt?

Und meine Vermutung, im polnischen Schulbuch gibt es kaum etwas Neues über die Region, hat sich leider bestätigt. Es wird überhaupt nur ein Prozent über die Region erzählt. Aber die Antwort auf die Frage, wie es erzählt wird, hat mich sehr traurig gemacht – zumal solche Kulturlandschaften wie ehemals Ostpreußen in polnischen Schulbüchern, vor allem in denen nach 2005, als europäische Kulturlandschaften dargestellt werden – als eine litauisch-preußisch-deutsch-polnisch-russische Landschaft. Aber dort gibt es kaum eine Minderheit – und das ist der Unterschied zu Oberschlesien, denn in Oberschlesien gibt es eine lebendige Minderheit – die deutsche und natürlich auch Oberschlesier. Und polnische Schulbücher, gerade wegen dieser nicht nur historischen, sondern auch wegen der aktuellen Multiethnizität der Region, schweigen sich darüber immer noch aus.

Und nun zu meinem literarischen Reiseführer. Mir ging es darum, sowohl Wissen zu vermitteln, als auch dieser Region mit neuem Wissen zu begegnen, das heißt, sich mit Phänomenen zu befassen, die in Vergessenheit geraten sind – angefangen damit, dass wenn man Oberschlesien denkt, man nicht sofort in Kattowitz landet, sondern vielleicht in Neiße, einer fantastischen, heute leider nicht wieder zu erkennenden Stadt, da sie 1945 zu fast 80 Prozent zerbombt wurde. Neiße war eine wunderbare, florierende Stadt mit barocker Architektur, in der sich zum Beispiel die Schriftsteller August Scholtis und Max Herrmann-Neiße trafen, um miteinander zu plaudern. In Polen wird Neiße überhaupt nicht als eine oberschlesische Stadt gesehen. Ich wollte die dortige Buchkulturin Erinnerung rufen, denn Oberschlesien ist nicht nur Industrie, sondern auch Buchkultur. Oppeln gehört natürlich auch dazu sowie Lubowitz, wo Joseph Freiherr von Eichendorff herkommt. Es ging mir darum, zu zeigen, wie groß diese Kulturlandschaft war und zu erklären, warum Vieles in Vergessenheit geraten ist. Es war ein Versuch, fünf LiteraTouren zu erschaffen, die Leser dazu anregen, sich auf eine Reise zu machen.

Basil Kerski: Im deutschen Sprachgebrauch funktioniert besser der Begriff „Oberschlesien“ als eine Vorstellung von einem homogenen Kulturraum, im Polnischen sind es die Begriffe „Śląsk“, „Ślązacy“. Für Außenstehende ist der schlesische Dialekt auffallend, es ist eine Sprache, die eine in sich geschlossene Identität schafft. Es ist vielleicht auch die einzige Region in Polen, die noch eine Kontinuität einer Multikulturalität in Mitteleuropa hat …

Marcin Wiatr: Ich würde sogar vielleicht überspitzt formulieren, dass Polen ein großes Glück hat, dass Oberschlesien in Polen liegt, denn mit Oberschlesien hat Polen so etwas wie ein kleines Erbe der I. Rzeczpospolita (Polen-Litauen), des ersten großen polnischen Reiches des 16., 17. Jahrhunderts, das sich ja von Posen her bis fast ans Schwarze Meer erstreckte und zu dem Schlesien natürlich nicht gehörte. Es ist ein großes Glück, weil es einen herausfordert – sei es zum Beispiel in der Bildungspolitik – sich über die polnische Identität neu Gedanken zu machen, sich die Frage zu stellen „Wer ist Pole?“

Sebastian Rosenbaum: Ich denke, wenn wir Oberschlesien definieren wollen, sollten wir von einfachen, geografischen Prinzipien ausgehen. Wenn in den deutschen Publikationen zum Beispiel vor 1939 das Wort „Schlesien“ fällt, so wird damit immer „Niederschlesien“ gemeint, mit der Bezeichnung „Schlesier“ – Niederschlesier. Ein Oberschlesier wiederum, als ein seltsames, originelles Geschöpf Gottes, erforderte– ähnlich wie die eigentümliche Region, die er bewohnte – eine eigene Bezeichnung. Aus diesem Grund wurde diese Unterscheidung in dem damaligen Diskurs in der Vorkriegszeit besonders stark betont: Oberschlesien, Oberschlesier. Heute ist es gewissermaßen umgekehrt – spricht man über „Śląsk“, „Ślązacy“, denkt man dabei an Oberschlesien. Ich halte es für sinnvoll, die Begriffe „Oberschlesien“ und „Oberschlesier“ präzise zu verwenden und die schlechten Angewohnheiten loszuwerden, die sich in dem polnischen öffentlichen Diskurs ausgebreitet haben.

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