Ausgewählte Artikel und Leseproben zu europäischen Themen

Donald Tusk - Essay: Der Geist Europas
Erschienen in: DIALOG Nr. 92

Die Einzigartigkeit Europas besteht in dem Bewusstsein für Historizität, wegen dem Europa eine eigene organische Kontinuität und Identität besitzt. Weil es eine Gemeinschaft der Kooperation und der Konflikte, des Austauschs und der Sitten, und weil es kein Konstrukt von Ideologen ist, kann Europa eben den Ideologien widerstehen, sogar denjenigen - die, wie der Nationalsozialismus und Kommunismus - aus dem europäischen Geist entstanden sind, aber diesen letztendlich nicht verderben konnten. 

Ich bin in Danzig zur Welt gekommen, einer Stadt, deren Vergangenheit, insbesondere des letzten Jahrhunderts, eine Lektion in Geschichte ist. Hier spielten sich all die wichtigen Dramen ab, die die Menschheit im 20. Jahrhundert erlebt hatte. Eben dieses Danzig des 20. Jahrhunderts ist mein "vertrautes Europa". 

Vom Dachboden des Hauses, in dem ich wohnte, konnte man die Arbeit der Kräne der Schiffswerft beobachten, den schönen alten Bahnhof sehen, und weiter weg die Türme der Marienkirche und des Rathauses. In der unmittelbaren Nachbarschaft des Hauses befanden sich sieben Friedhöfe, zu denen Wege führten, die durch alte Hecken begrenzt waren, Zeugnisse der Gartenphantasien und des Elans der alten Danziger. Auf den Gräbern und Grabsteinen konnte man nur mit Mühe die Namen und Epitaphien lesen; hauptsächlich deutsche, aber auch polnische, russische und sogar solche mit orientalischen Halbmonden. Einer der Friedhöfe, der gepflegt und bewacht wurde, bestand aus Hunderten von Gräbern ohne Kreuze und Namen - lediglich mit Sternen und Nummer versehen. Dort sind Soldaten der Roten Armee begraben worden, Gefallene des Kampfes um Danzig 1945. 

In den Jahren meiner Kindheit waren in der Stadt die Spuren des Krieges noch frisch: Ruinen, Bombentrichter, Einschusslöcher in den Fassaden der Häuser. Viele Straßenzüge wurden wiederaufgebaut oder neu errichtet, was auch eine Konsequenz der nicht weit zurückliegenden Katastrophe war. Ständig stießen wir auf Spuren einer anderen Epoche: Münzen mit einem Fisch oder Segelschiff, Küchengeschirr mit der deutschen Aufschrift "Salz", Knöpfe von Uniformen nicht mehr existierender Armeen. In Wirklichkeit trennte uns von der Epoche, aus der diese Gegenstände stammten, eine Ewigkeit. 

Damals, als ich zur Schule ging oder zum Lebensmittelladen, entlang von Ruinen, entlang alter Familien- und Stadthäuser, wusste ich sicherlich noch nicht, dass dieser mein Ort auf der Erde durchtränkt ist von alter Geschichte, die uns zu Bürgern einer alten Tradition machte und nicht nur zu Bewohnern einer von vielen Städten. Erst später sollte ich erfahren, bis zu welchen europäischen Phänomenen diese Tradition zurückreicht. 
Ich begann dies zu verstehen, als ich beim französischen Historiker Fernand Braudel las, dass im 16. und 17. Jahrhundert "diese zwischen der weiten Welt und der Weitläufigkeit Polens gelegene Stadt, wenn nicht das einzige, so doch das bedeutendste Tor für beide Richtungen des Handels war, für die Ein- und Ausfuhr". Ich begann dies zu verstehen, als der englische Historiker Norman Davies Danzig als eine "enorme Anhäufung von Arbeit, Wohlstand und Kultur" charakterisierte, was "ein damals in Italien und den Niederlanden bekanntes Phänomen gewesen ist, aber in Polen absolut nicht anzutreffen war". 

Ähnlich erging es mir nach der Lektüre der Erinnerungen von Johanna Schopenhauer, der Mutter des Philosophen. Beide kamen in Danzig zur Welt. Es fiel mir schwer, dieses Buch emotionslos zu lesen, da es voller Sympathie für Polen und voller Gefühle der Verbundenheit mit Polen ist. In Johanna Schopenhauers Erinnerungen ist Danzig "ein Bestandteil des Westens, der mit Polen durch reale Interessen verbunden ist und gleichzeitig ist es auch ein Auge des Westens, das aus der Nähe seit Jahrhunderten auf Polen schaut". (Kazimierz Brandys) 

Entlang der Spuren dieser alten und langen Tradition habe ich mich unbewusst bewegt, als ich im Park von Oliva spazieren ging, zu dem mich nicht selten meine Mutter geführt hat, eine Parkanlage, die damals nach Adam Mickiewicz, einem großen Dichter der polnischen Romantik, benannt war. Ich spazierte entlang der Spuren und auf den Überresten der mittelalterlichen Zivilisation der Zisterzienser, einer Zivilisation, deren Ausdehnung - so die Ansicht von Historikern - mit den Grenzen Europas übereinstimmt. 

Oft habe ich überlegt, wie es dazu kommen konnte, dass es dem Nationalsozialismus und Kommunismus nicht gelungen ist, uns das Erbe Europas zu entreißen. Man könnte meinen, dass wir auf wenig zurückgreifen konnten, um uns zu verteidigen: zerstörte Friedhöfe, den Schatten einer großen gotischen Kirche, das Läuten der Glocken des Rathausturmes … Wir besaßen noch etwas, was jemand sehr schön als "bescheidene Würde der Bräuche" bezeichnet hat. In meinem Fall waren es die sonntäglichen Ausflüge mit meinen Eltern zur Konditorei, die wir unternahmen, um uns von dem grauen Alltag und seiner Armut abzugrenzen. In meiner Familie war es auch das gemeinsame Musizieren an Feiertagen, was auch - so erfuhr ich später - Brauch war in Triest, München oder Utrecht (und möglicherweise bis heute dort fortlebt). 

Ein solches Europa lebte in uns fort, oder zumindest lebte in uns die Treue zum Traum von Europa weiter. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hat möglicherweise recht, wenn er schreibt, dass die Einzigartigkeit Europas in dem Bewusstsein für Historizität besteht, wegen dem Europa eine eigene organische Kontinuität und Identität besitzt. Weil es eine Gemeinschaft der Kooperation und der Konflikte, des Austauschs und der Sitten, und weil es kein Konstrukt von Ideologen ist, kann Europa eben den Ideologien widerstehen, sogar denjenigen - die, wie der Nationalsozialismus und Kommunismus - aus dem europäischen Geist entstanden sind, aber diesen letztendlich nicht verderben konnten. 

Dennoch mussten solche Ideologien ihre Spuren in der europäischen Identität hinterlassen. Dies gilt möglicherweise besonders für jene Landstriche des Kontinents, die aus verschiedenen historischen und geografischen Gründen den Charakter von Grenzländern haben. Zweifelsohne hat der Kommunismus hier die spezifische Art widersprüchlicher Gefühle verstärkt: Wir fühlen uns in Europa als Einheimische und zugleich auch als Fremde, um hier den polnischen Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zu zitieren. 

Aber vielleicht ist es so, dass Europa solche Europäer braucht, für die es sowohl Heimat als auch Ausland ist, etwas Eigenes und etwas Fremdes. Vielleicht entsteht aus solchen Beziehungen und Spannungen eine bessere und menschlichere Gemeinschaft. All dies bildet in gewissem Maße die Grundlage für den Ausbruch der August-Ereignisse 1980 in Danzig. Das Epos der Solidarność ist nicht nur Teil meiner Biografie. Die Ereignisse, über die ich sprechen werde, sind Bestandteil der kollektiven Biografie einer Generation, die diese große Volksbewegung mitbegründet hat, eine Bewegung, die den Niedergang des Kommunismus auslöste. Heute wissen wir auch, dass dies auch der erste Schritt auf dem Weg Polens nach Europa und zu unserer Anwesenheit in der Europäischen Union war. 

Die Proteste vom August 1980 begannen in Danzig, auf der Lenin-Werft. Die Geschichte legte damals am Ufer der Ostsee an, und meine Stadt bildete den Hintergrund für den großen Streik. 
Doch der August 1980 begann in Danzig schon zehn Jahre früher. Dies scheint nur auf den ersten Blick paradox. 1970 formierten sich Arbeiterproteste gegen Preiserhöhungen, vor allem von Lebensmitteln. Ich war damals vierzehn Jahre alt, und somit groß genug, um zu verstehen, was um mich herum geschah. Ich wurde Zeuge von Ereignissen, die mich für mein ganzes Leben prägen sollten: Tausende von Demonstranten, die die patriotische Hymne "Warszawianka" sangen, das brennende Komitee der kommunistischen Partei, die um sich schlagende und auf die Menschenmenge schießende Miliz, eine Menge, die sich auf Milizionäre stürzte. All dies waren Szenen wie aus den Erzählungen über Revolutionen - gute Arbeiter und böse Machthaber, Gleichheit, Brüderlichkeit, Revolution; das Gefühl großer Angst und gleichzeitig fröhlicher Euphorie. Ich fühlte mich mit diesen Menschen durch eine absolute und uneingeschränkte Solidarität verbunden. 

Den Radikalismus lernten wir auf den Straßen kennen, und die Demonstrationen waren, unabhängig von ihren tragischen Folgen, für uns Jugendliche eine heilige Zeit. Diese mystische Erfahrung machte uns reicher, denn wir erkannten, dass etwas sehr Wichtiges existierte: die öffentliche Sphäre, in der sich Faszinierendes ereignen konnte. In diesen Tagen hatte niemand Zweifel, wer recht hat. Die Fähigkeit, das Gute und das Böse in der öffentlichen Sphäre zu erkennen, war eine der wichtigsten Erfahrungen des Dezembers 1970. 

So etwas vergisst man nicht. Wer den Dezember 1970 in Danzig im jungen Alter erlebt hat, wer die Panzer auf den Straßen und die Flut der Lügen in den Zeitungen gesehen hat, der ist politisch schneller reif geworden, als Altersgenossen ohne solche Erfahrungen. Ich kann mich noch gut an eine auf der Mauer gekritzelte Aufschrift erinnern, deren Sinn ich erst später verstehen sollte: Katyń! Dieses Schlagwort war das Werk des 17 Jahre alten Aram Rybicki, eines späteren Aktivisten der demokratischen Opposition. Im freien Polen war er dann Sejm-Abgeordneter und mein Freund. Vor einem Monat ist er bei der Katastrophe von Smolensk tragisch ums Leben gekommen. Doch die Erfahrungen jener Zeit hatten auch eine andere pädagogische Dimension. Wir lernten, dass der Widerstand auf den Straßen, selbst der heftigste, zur Niederlage verurteilt sein kann, und dass Gewalt Gegengewalt hervorruft. Aus diesem Grund waren Verantwortungsbewusstsein, Organisation und eine starke Führung Bestandsteile des Ethos der Danziger Proteste von 1980. Diese Elemente schufen einen mächtigen Rahmen für die Emotionen und gaben unserem Kampf einen tiefen Sinn und eine Siegesperspektive. Wir wurden reifer. 
Die August-Ereignisse und die Solidarność wurden mir zur Heimat. Sie markierten den Beginn einer großen Umwälzung und das Ende des Kommunismus. Um es genauer zu sagen: Den ersten Akkord der Veränderungen symbolisiert das Jahr 1980, den zweiten 1989. 

Damals war alles sehr einfach. Wir gingen zur Solidarność wie zu einem Volksaufstand. Wir waren überzeugt, dass es sich nach langer Zeit wieder um einen siegreichen Nationalaufstand handelte. Siegreich, weil fähig zur Selbstbeschränkung, also zur Verbindung von Mut und Besonnenheit, was seit Jahrhunderten ein Prinzip des Handelns in meiner Heimatstadt ist. 

Innerlich wurden wir im August 1980 unabhängig. Wer vor dem Tor der streikenden Werft stand, wird das Gefühl der Befreiung nicht vergessen, das eine Quelle der Kraft war und das uns zu besseren Menschen als sonst machte. Die Unterdrückten standen auf und erhoben ihre Häupter, um ihre eigenen Rechte einzufordern. Das war ein Triumph der in uns (in unserem Geist und Körper) verborgenen Bürger über die Untertanen des kommunistischen Staates. Die Sprache erlangte wieder ihren Stolz und hörte auf, verdächtig zu ein. Klare Sätze besiegten die Lüge. Wir wurden Zeugen einer unerwarteten und bislang unbekannten ethischen Revolution. Niemand hatte Zweifel, dass in Danzig das eintrat, was Johannes Paul II während seiner ersten Pilgerreise 1979 in Polen vorausgesagt hatte. Ja, in Danzig erneuerte sich das Antlitz meines Landes. 


Und so begann ein Jahrzehnt, dessen Ende 1989 den Ländern Mitteleuropas die Freiheit und Deutschland die Wiedervereinigung brachte. 

Mit ihrer Schwungkraft löste die Solidarność einen enormen Prozess der politischen Reifung der Gesellschaft aus. Die Solidarność erwies sich als eine friedliche, freiheitliche und antitotalitäre politische Revolution, von der ich zuvor nur träumen oder lesen konnte. Jetzt erfüllten sich vor unseren Augen Hannah Arendts Worte vom öffentlichen Glück, das frühere Generationen entdeckt hatten. Im August 1980 hatten auch wir es erfahren. Das öffentliche Glück wurde damals zu einer Erfahrung für Millionen von Polen. Die Quelle dieses Glücks war das in seiner Kraft ungewöhnliche Gefühl der Teilhabe an etwas sehr Wichtigem, Großem, das nahe war am Wunder, vergleichbar mit dem Wunder eines Obstbaums voller reifer Früchte im Winter. Mit dem Band der Solidarność vereint, haben wir neue Wächter unserer Zukunft, mit Lech Wałęsa an vorderster Stelle, ausgewählt. Wir sagten damals: Alle für einen, einer für alle, wir sprachen ständig von der Einheit in der Vielfalt und wussten nicht, dass dies der Leitspruch der Europäischen Union ist. 

Wie die Solidarność zur Heimat wurde, so wurde Danzig im August 1980 zu einer Agora. Jemand, der wie ich vom antiken Griechenland fasziniert ist, konnte mehrere Analogien erkennen. Ich weiß nicht, ob die Streikenden Erinnerungen an die Athener Bürger der Zeiten von Perikles weckten, aber sie waren, ähnlich wie die Athener, um das Gemeinwohl und die Zukunft der Polis besorgt. Die Agora entstand in den Hallen der Hüttenwerke und in den Straßenbahndepots, in den Betrieben und Universitäten, überall dort, wo sich Menschen trafen, um dem Wort "Demokratie" seinen elementaren Sinn zurückzugeben. Nebenbei lernte man die Regeln der Demokratie, und ohne Mühe wurde die Tradition der "Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk" erneuert. Diese Ideale ließ man sich, trotz Kriegsrechts, Verhaftungen und Repressionen, nicht wegnehmen. Wir entzogen der alten Ordnung ihre Rechtmäßigkeit. Mit der Solidarność sind wir zum Europa der freien und demokratischen Nationen zurückgekehrt. Die Solidarność wurde gleichzeitig zu einer neuen europäischen Erfahrung. 1989 vollzog sich die erste symbolische Vereinigung unseres Kontinents, denn damals fiel der "Eiserne Vorhang". Die zweite, tatsächliche Vereinigung vollzog sich fünfzehn Jahre später: 2004. 

Unsere Generation hatte Glück. Wir leben in besonderen Zeiten. Wir konnten unsere moralischen Vorstellungen und großen politischen Träume verwirklichen. Wir haben es geschafft. Wir konnten auch das erreichen, was ältere Generationen erstrebt hatten. Man könnte sagen, das alles geschah so schnell und war zugleich irgendwie so normal. 

Wir befinden uns heute in dem Europa eines großen gesellschaftlichen und politischen Experiments. Mutig und mit Bedacht versuchen wir, eine gewisse Einheit - deren Konturen wir noch nicht kennen - über der Vielfalt der Staaten, Nationen, Sprachen und Religionen zu schaffen. Wir sind uns bewusst, dass unsere Europa-Idee aus den ewigen Träumen von der Gemeinschaft freier Nationen und der Brüderlichkeit freier Menschen erwächst. 


Aus dem Polnischen von Basil Kerski 

Donald Tusk 

Polens Premierminister Donald Tusk wurde mit dem diesjährigen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet. Dieser Essay diente ihm als Grundlage seiner Dankesrede am 13. Mai 2010 in Aachen. Erschienen in: DIALOG Nr. 92 (2010)

Jerzy Łukaszewski - Eine Präsidentschaft für die Zeit der Krise
Erschienen in: DIALOG Nr. 96

Am 5. September 1929 präsentierte Aristide Briand, Regierungschef und Außenminister der Französischen Republik auf der alljährlichen Sitzung der Völkerbundversammlung in Genf seinen Vorschlag zur Schaffung eines „föderalen Bandes“ der europäischen Völker. Briand war einer der bedeutendsten Staatsmänner der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und erfreute sich höchster Autorität. Als ausgezeichneter Diplomat, unabhängiger und origineller politischer Denker und als Mensch mit außergewöhnlicher Intuition sowie besonderem persönlichem Charme war er wie kein anderer dazu prädestiniert, Verfasser und Verteidiger dieses Vorschlags zu sein. Er hatte Jahre darauf verwendet, den Boden für seinen Genfer Auftritt politisch und psychologisch vorzubereiten. Die bekanntesten und wichtigsten Etappen dieser geduldigen und sorgfältig durchdachten Tätigkeit waren die Konferenz in Locarno mit den dort unterzeichneten internationalen Verträgen (1925), die Aufnahme der Weimarer Republik in den Völkerbund (1926) und der Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg aus den internationalen Beziehungen ausschloss und der von beinahe allen damals weltweit existierenden Staaten unterschrieben und ratifiziert wurde (1928).

Im Jahre 1929 kam Briand zu dem Schluss, die Lage in Europa sei soweit herangereift, um den Regierungen eine radikale Neuerung in den Beziehungen zwischen den Völkern vorzuschlagen. Der Nachkriegswiederaufbau war zu Ende, die Inflation unter Kontrolle, die Industrieproduktion reichte an die vor dem Krieg heran oder überschritt sie sogar; die soziale Lage war im Allgemeinen erfreulich und frei von Spannungen: Die Stimmungen von Trauer und Hass den Kriegsgegnern gegenüber, die in den ersten Jahren nach dem Waffenstillstand noch dominierten, hatten einer Atmosphäre der Beruhigung und eines relativen Optimismus Platz gemacht.

Überdies fand die europäische Idee immer mehr Befürworter in der politischen Klasse und der öffentlichen Meinung der Länder der Alten Welt. Erfolgreich propagierte sie die sich damals dynamisch entwickelnde Paneuropabewegung Richard Coudenhove-Kalergis; ihre intellektuelle und moralische Begründung lieferten Dutzende von Büchern über die Einheit der europäischen Zivilisation und die Notwendigkeit einer politischen Vereinigung der Staaten des Kontinents auf Französisch, Deutsch, Italienisch und in vielen anderen Sprachen, Bücher, die des Öfteren glänzend und innovativ waren und es nach wie vor wert sind, nochmals gelesen zu werden. All dies stellte eine natürliche Reaktion sowohl auf das schreckliche Gemetzel des Ersten Weltkrieges und der Jahre danach dar als auch auf die nationalistischen Doktrinen, die das Terrain für diese Gemetzel bereitet hatten.

Briands Vorschlag wurde im Allgemeinen sowohl von den Regierungsvertretern als auch von den Medien und der öffentlichen Meinung wohlwollend aufgenommen (mit Ausnahme Englands, wo die intellektuelle Verknöcherung der Regierungsmilieus es nicht zuließ, darin etwas anderes als nur einen geschickt getarnten Versuch zu sehen, die französische Hegemonie auf dem Kontinent wiederherzustellen, weswegen man ihn auf mehr oder weniger offene Weise bekämpfen ließ). Zweifellos existierte damals ein weithin geteiltes Bedürfnis nach einer neuen politischen Philosophie und einer Neuordnung der Beziehungen zwischen den Völkern.

Wenn ernsthafte Verhandlungen über die Realisierung von Briands Projekt eingeleitet worden wären (wie es ein Beschluss der Völkerbundversammlung, der nach der Anhörung des französischen Ministerpräsidenten und nach anfänglicher Diskussion gefasst worden war, forderte), und wenn dieses Projekt, wenn auch nur teilweise, in die Tat umgesetzt worden wäre, hätte Europa vielleicht den Zweiten Weltkrieg vermeiden können. Jedoch fegte der Hurrikan der Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Oktober 1929 in Ney York begonnen hatte und in kurzer Zeit die gesamte Welt umfasste, Briands Projekt und die damit verbundenen Hoffnungen von der Tagesordnung Europas hinweg.

Neue und Alte Welt versanken im Chaos. Die Panik in den Regierungskreisen trieb diese zum Aufbau oder Wiederaufbau von Zollbarrieren und zum „Schutz der einheimischen Produktion“. Jene gleichzeitig von fast allen Staaten unternommenen Maßnahmen verschlechterten die Situation dramatisch. Der Zusammenbruch der Produktion und des Austauschs rief eine beispiellose soziale Krise hervor. Millionen Menschen verloren ihre Arbeit. Eine seit Jahren unbekannte Armut erfasste Millionen Familien. Extreme politische Bewegungen, die aus der menschlichen Not und Verzweiflung Nutzen zogen, tauchten aus der Bedeutungslosigkeit auf und erlangen rasch eine wichtige oder gar dominierende Position auf der politischen Bühne. Europa glitt in ein Fahrwasser hinab, das zu einem neuen Krieg führte. Die Erinnerung an diese für die weiteren Schicksale der Alten Welt schwerwiegenden Ereignisse drängt sich dem Erforscher europäischer Angelegenheiten heute auf, der sie gewöhnlich in einem breiteren historischen und internationalen Rahmen fassen soll.

Comparaison n’est pas raison, sagen die Franzosen, was so viel heißt wie: Ein Vergleich beweist gar nichts. Das stimmt, denn im Jahre 1929 existierte erst das Projekt eines europäischen „föderalen Bandes“, und heute gibt es schon eine Union. Es stimmt, 1929 kannten die Regierungen keine erfolgreichen Methoden zur Krisenbekämpfung, heute haben sie mehr Erfahrung, agieren auf koordiniertere Weise und wenden Methoden an, die vielleicht die Katastrophe verhindern. Man muss sich das herzlich wünschen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise, die größte und gefährlichste seit 1929, die Europäische Union mit außergewöhnlicher Wucht getroffen, ihre Verbindungen gestört und ihre institutionelle Konstruktion ins Wanken gebracht hat. Es ist erneut eine angespannte, undurchsichtige Situation entstanden, die sich durch Unruhe und in der ersten Phase durch Ratlosigkeit ausgezeichnet hat.

 

Die Eurozone

Erstes Angriffsopfer wurde – gewissermaßen zwangsläufig – das schwächste und sensibelste Glied der Europäischen Union, nämlich die Eurozone: Die Gruppe von Staaten, die der Währungsunion beigetreten sind, hat die aus ihr herrührenden Verpflichtungen auf sich genommen und die nationalen Währungen durch eine einheitliche Währung ersetzt. Erinnern wir daran, dass die Währungsunion unter dem Druck der Notwendigkeit einer starken und unumkehrbaren Einbindung des vereinigten Deutschlands in die europäischen Strukturen entstanden ist. Dies wurde von den Nachbarn der Bundesrepublik und den vertrauens- und respektwürdigsten Vertretern der deutschen politischen Klasse so gewünscht. Die Währungsunion stützte sich jedoch von Anfang an auf brüchige Grundlagen. Zahlreiche Beobachter und Analytiker verkündeten seit Jahren, die separaten – sich oft drastisch voneinander unterscheidenden – ­Wirtschafts-, Haushalts- und Sozialpolitiken der ihr angehörenden Staaten seien Faktoren, die ihre Kohärenz untergraben und zersprengen (gegenwärtig zweifelt keiner daran, dass diese Unterschiede radikal ausgeglichen werden müssten, wenn die Währungsunion ein fester Bestandteil der europäischen Wirklichkeit bleiben soll).

Überhaupt hatten seit der Zeit, als das Projekt einer einheitlichen europäischen Währung entstand, führende Ökonomen mit dem Nobelpreisträger Milton Friedman an der Spitze die Möglichkeiten seiner Verwirklichung sehr skeptisch bewertet. Sie erinnerten daran, dass die Versuche eine einheitliche Währung einzuführen – und davon gab es in der Vergangenheit jede Menge – nur dort gelangen, wo ihnen eine echte politische Vereinigung des Gebietes, in dem diese Währung gelten sollte, vorausgegangen war (Italien im Jahre 1861, Deutschland 1871). Alle anderen schlugen fehl. Die Initiatoren und Schöpfer des Maastricht-Vertrags – Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl – waren sich dessen bewusst und wollten, dass eine ins Leben gerufene politische Union die Schaffung der Währungsunion begleitet. Großbritannien hat dieses Projekt jedoch vereitelt.

Eine Schwäche der Währungsunion ist es auch, dass sie sich keiner breiten und unumstrittenen gesellschaftlichen Unterstützung erfreut. Bedeutende Kleingruppen der Bevölkerung in den Staaten der Eurozone geben der einheitlichen Währung die Schuld für die Teuerung sowie andere Schwierigkeiten, die sie heute erfahren. Ganz davon zu schweigen, dass die Erinnerung an die nationalen Währungen einen untrennbaren Teil der Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“ darstellt, an Zeiten der dynamischen wirtschaftlichen Expansion und ständigen Anstieg des Wohlstands. Vor diesem Hintergrund fallen die immer häufigeren und immer radikaleren Appelle für einen Austritt aus der Währungsunion auf empfänglichen Boden. Sie stammen nicht nur von Vertretern extremer politischer Gruppierungen, die wieder aus dem Abseits heraustreten und an Stärke gewinnen, sondern auch von als gemäßigt geltenden Personen. Die Droge der günstigen Abwertungen, Zollbarrieren und des „Schutzes der einheimischen Produktion“ scheint immer noch eine unwiderstehliche Anziehungskraft zu besitzen. Nicolas Dupont-Aignan, einer der Kandidaten der „parlamentarischen Rechten“ für das Amt des französischen Staatspräsidenten, erklärte am 21. November vergangenen Jahres vor zahlreichem Publikum in Paris: „Der Euro ist ein hoher Preis. Der Euro ist die Verlagerung von Industriebetrieben ins Ausland. Der Euro ist Arbeitslosigkeit. Der Euro ist Not. Ich werde Kandidat in den Präsidentschaftswahlen 2012 werden, um mit diesem Gift Schluss zu machen.“ Die Beispiele dieser Art könnte man problemlos vermehren.

In Wirklichkeit ist der Euro trotz seiner Schwächen ein unübertroffenes Instrument der ökonomischen, politischen und menschlichen Integration Europas. Er ist auch die Voraussetzung für ein Überdauern, die Entwicklung und die Zukunft Europas in einer immer schwierigeren globalen Umgebung. Ohne ihn wäre die Lage Europas unermesslich viel schlechter als sie gegenwärtig ist – sie wäre so wie im Jahre 1929 und in den darauffolgenden tragischen Jahren. Deshalb ist es gut, dass von der Krise weniger betroffene Staaten umfangreiche Mittel mobilisiert haben, um den Euro zu retten. Der entworfene Pakt für Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz wird zweifellos angenommen werden und die innere Inkohärenz der Zone reduzieren. Der bereits geschaffene Europäische Stabilisierungsfonds soll die Staaten der Zone, die durch die Krise am stärksten bedroht sind, vor dem finanziellen Zusammenbruch schützen. Er besitzt heute die Fähigkeit, Darlehen bis zu einer Höhe von 440 Milliarden Euro aufzunehmen und solche in einer Höhe von 250 Milliarden Euro zu gewähren. Man spricht auch von der Möglichkeit, diese Summen zu erhöhen.

Angela Merkel, die Regierungschefin des Landes, auf das die größte Last bei der Rettung der Währungsunion fällt, wiederholt, alles Menschenmögliche werde getan, um dieses Ziel zu erreichen. Sie fügt aber mit Nachdruck hinzu – vergangenes Frühjahr im Bundestag, im November vor dem Europakolleg in Brügge und erneut auf dem kürzlichen Treffen in Davos –, sollte der Euro nicht überdauern, werde das vereinte Europa auch nicht überdauern. Ähnlich äußerten sich Präsident Nicolas Sarkozy, der Vorsitzende des Europäischen Rates Herman Van Rompuy sowie andere führende Persönlichkeiten aus der Welt der Politik, der Wissenschaft und der Medien. Es scheint, als ob man diese Meinungen nicht mit einem Abwinken abtun kann und sie als kalkulierten und ausgemachten Zweckpessimismus bewertet. Die Krise ist noch nicht vorbei: Es kann sein, dass sich der Stabilisierungsfonds als nicht ausreichend erweist, wenn der finanzielle Zusammenbruch immer breitere Kreise zieht. Die von der Krise am meisten bedrohten Staaten der Eurozone könnten – aus sozialen oder politischen Gründen – nicht imstande sein, die unerlässliche, sich auf Jahre erstreckende und äußerst schmerzhafte „Schocktherapie“ durchzuführen.

Kann ein eventuelles Fiasko der Währungsunion tatsächlich den Zerfall oder ein Verkümmern der Europäischen Union nach sich ziehen? Über diese Frage kann man ebenfalls nicht zur Tagesordnung übergehen, schon allein deswegen, weil sie sich im Westen im Zentrum der Aufmerksamkeit der Regierungs-, Parlaments sowie Universitätsmilieus befindet und Gegenstand einer breiten öffentlichen Debatte ist.

 

Die Europäische Union heute

In einem aufsehenerregenden, am 29. August 2010 in der „Washington Post“ veröffentlichten Artikel stellte Professor Charles A. Kupchan, ein bekannter Spezialist für internationale Angelegenheiten und Mitglied des amerikanischen Council on Foreign Relations eine extrem pessimistische Diagnose: „The European Union is dying.“. Selbst wenn man diese Auffassung nicht teilt, muss man konstatieren, dass außer der Eurokrise eine Reihe anderer Faktoren die Union schwächt. Ihr Anteil am Bruttoweltprodukt verringert sich, insbesondere zugunsten der neuen Wirtschaftsmächte Asiens und Lateinamerikas. Die in den meisten Mitgliedsstaaten übermäßig ausgebauten sozialen Privilegien reduzieren ihre Wettbewerbsfähigkeit und begrenzen das Wirtschaftswachstum oder machen es unmöglich. In der Union wird wenig gearbeitet, man geht bei vollen Kräften „in den Ruhestand“. In einer Epoche, in der Mechanisierung, Automatisierung und Robotisierung der Produktion den Menschen von ihren beschwerlichsten Dimensionen befreit hat, hat eine demagogische und selbstmörderische Politik der Syndikate und linker bzw. linksradikaler Parteien bedeutenden Teilen der Gesellschaft die Überzeugung eingeimpft, Arbeit sei kein Privileg und keine Voraussetzung für Menschenwürde, sondern Frondienst oder Sklaverei. Es ist wahr, dass die Regierungen einiger Mitgliedsstaaten unter dem Druck der Krise darangingen, die krassesten sozialen Anomalien zu begrenzen. Aber dies in die Tat umzusetzen, wurde auf Jahre verteilt, was bedeutet, dass die erwarteten ökonomischen Folgen unklar bleiben, denn die Wettbewerbsfähigkeit Chinas, Südkoreas oder Brasiliens wächst von Tag zu Tag.

Eine bedrohliche Schwäche der Union ist die demografische Lage ihrer Mitgliedsländer. Sie ist gekennzeichnet durch Stagnation oder Rückgang. Um dem Abhilfe zu schaffen, hatten sich die meisten dieser Staaten weit für Einwanderung aus Afrika, Asien und Lateinamerika geöffnet. Bald stellte sich jedoch heraus, dass die Beschäftigung der Ankömmlinge schwierig oder gar unmöglich ist, weil sie ein sehr niedriges Bildungsniveau repräsentieren oder Analphabeten sind, wohingegen die moderne Wirtschaft von den Arbeitern eine gewisse Kenntnis von Mechanik, Chemie oder Informatik verlangt. Im Endergebnis ist die Arbeitslosenrate unter den Neuankömmlingen drei- bis viermal höher als unter der einheimischen Bevölkerung. Millionen dieser Menschen, vor allem die jungen, stellen gegenwärtig ein kolossales gesellschaftliches und finanzielles Problem dar. Die Einwanderungsfrage auf eine rationale Grundlage zu stellen, stößt jedoch auf den Widerstand linker und linksradikaler Gruppierungen, die mit Parolen des Humanitarismus um sich werfen, hinter denen sich politisches Kalkül verbirgt. Weil die Einbürgerungsmaschinen äußerst intensiv arbeiten und den Ländern der Union jedes Jahr Hunderttausende neuer Staatsbürger liefern, sehen diese Gruppierungen nicht zu Unrecht in diesem Prozess eine Quelle zusätzlicher Stimmen bei den Wahlen, wenn nicht sogar eine Stärkung des „revolutionären Potenzials“.

Neben diesen mehr oder weniger für die gesamte westliche Welt (im politischen, nicht im geografischen Sinne) charakteristischen Phänomenen stellen spezifische innere Probleme die Dauerhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit der Union auf die Probe. Die Generationen, die die Gemeinschaft aufgebaut, danach ihre Verpuppung in die Union gesteuert und Nutznießer der Wohltaten waren, die diese Veränderungen brachten, treten von der europäischen Bühne ab oder sind schon abgetreten. Für die neuen sind sie Teil der bestehenden Ordnung. Und diese Ordnung begeistert sie oft nicht, wenn sie besonders in den schwierigen Krisenzeiten nicht sogar die Arbeitslosigkeit und in bestimmten Fällen die Unzulänglichkeit und das Fehlen von Zukunftsperspektiven belastet. Deshalb zeigen sich auch die neuen Generationen manchmal offen für die Anti-Unions-Propaganda von der rechten und der linken Seite des politischen Spektrums. Diese Propaganda, die in den letzten Jahren immer intensiver geworden ist und sich auf immer neue Argumente beruft, stellt die Union als Quelle und Inkarnation aller Plagen dar, die die europäischen Gesellschaften heute quälen. Beweis für ihre Wirksamkeit sind zum Beispiel die Ergebnisse der Referenden über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich, Holland sowie Irland und die systematisch zurückgehende Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Nicht gering ist dabei die Schuld der Regierungen und der in ihrer bürokratischen Routine gefangenen EU-Institutionen, die unfähig zu sein scheinen, in einer einfachen Sprache zu sprechen, erfolgreiche pädagogische Aktionen zum Thema der Rolle und der Ziele der Union zu betrieben, den Kontakt zur Gesellschaft herzustellen und sie zu einer gemeinsamen Anstrengung zugunsten Europas anzuspornen.

Die Politik einiger Mitgliedsstaaten kommt auch nicht der Beständigkeit, Entwicklung und Effektivität der EU zugute. Hier geht es besonders um Großbritannien. Es ist und fühlt sich vor allem als Mitglied – genauer gesagt als Bindeglied – der weltweiten Gemeinschaft angelsächsischer Länder. Geschichte, Kultur, Sprache, Lebensweise, die Art der Weltsicht und Sympathie verbinden es mit dem Commonwealth. Von den Staaten und Völkern des Kontinents – Frankreich, Deutschland oder Spanien – trennen die Briten Jahrhunderte blutiger Konflikte sowie tief verwurzelte negative Klischees und Vorurteile. Der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft war und ist für Großbritannien die Wahl eines notwendigen Übels. Es ging um unbegrenzten Zugang zum großen und aufnahmefähigen gemeinsamen Markt – eine lebensnotwendige Angelegenheit für die britische Industrie sowie den britischen Bank- und Versicherungssektor – wie auch darum, Kontrolle über die Entwicklung der Gemeinschaft zu erlangen, was von außen unmöglich war. Als Mitgliedsstaat bremste Großbritannien systematisch die Entwicklung der Gemeinschaft/Union hin zu fortgeschrittenen Integrationsformen, besonders aber zur politischen Union. Die Entscheidung der jetzigen konservativen englischen Regierung, jede wesentliche Änderung des Vertrags von Lissabon einer Volksabstimmung zu unterziehen, beunruhigt ganz besonders. Weil man die Stimmungen der englischen Gesellschaft kennt, kann man sicher sein, dass diese Änderungen abgelehnt werden würden. Es entsteht also die Gefahr, dass die Union in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsetappe „eingefroren“ wird. Und dies ist aus zwei Gründen gefährlich.

Erstens muss sich die Union, um zu leben und zu agieren, an die sich rasch entwickelnde internationale Umgebung anpassen. In der Vergangenheit antwortete man auf diese Erfordernis mit Modifizierungen des Römischen Vertrages: mit der Einheitlichen Akte, Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon. So sollte es auch in Zukunft sein.

Zweitens wurde die Gemeinschaft/Union vor einem halben Jahrhundert als eine a priori dynamische Gruppierung geschaffen, die dazu berufen wurde, durch eine überlegte, langsame, aber ständige Bewegung von einer Zollunion über eine Wirtschafts- und Währungsunion hin zum von den Vätern angestrebten Ziel der Europäischen Union, das heißt zur politischen Union, zuzusteuern. Das macht ihren Charakter, das Geheimnis ihrer Lebendigkeit und Anziehungskraft aus. Ruhig gestellt hätte sie das Los „statischer“ zwischenstaatlicher Verbände teilen können, die verrotteten und von der europäischen Bühne gefegt wurden, wie die auf Initiative Londons geschaffene European Free Trade Association, die ebenfalls von den Engländern ausgedachte Westeuropäische Union oder den von Moskau ins Leben gerufenen Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die Politik Großbritanniens bedeutet ein umso größeres Risiko für die Union, als sie den der europäischen Integration gegenüber negativ eingestellten Regierungs- und Parteikreisen Mitteleuropas Ermutigung und Rückhalt liefert.

Es unterliegt keinem Zweifel, wie sehr die weltweite Krise und die inneren Korrosionserscheinungen die Homogenität und Widerstandsfähigkeit der Europäischen Union geschwächt haben. Heute kann man deutlicher als in den vergangenen Jahrzehnten sehen, dass ein so unerhört schwieriger und komplizierter Prozess wie die europäische Integration eine Aufgabe für eine Zeit relativer Ruhe, relativen Wohlstands und einer ungefähr vorhersehbaren Zukunft ist. Eine Periode der Krise stellt die Beständigkeit dieses Prozesses auf eine schwere Probe und seine Zukunft infrage.

Vor diesem Hintergrund lassen sich Appelle vernehmen und werden Vorschläge gemacht, die vor zwanzig oder zehn Jahren nicht auszudenken gewesen wären. Bestimmte Politiker verkünden offen, ihre Länder sollten aus der Union austreten. Andere rufen etwas bedächtiger – zumindest auf verbaler Ebene – zu einer Stärkung der nationalen Souveränität, dem Dichtmachen der Staatsgrenzen, zum Schutz der einheimischen Produktion oder einer Lockerung des einschränkenden Unionskorsetts auf usw. Der Präsident der Tschechischen Republik Václav Klaus appelliert mit der ihm eigenen Schärfe und Mut zur Idee dazu, die Europäische Union durch eine Organisation Europäischer Staaten (die an den Völkerbund der Vorkriegszeit erinnert) zu ersetzen. Dagegen bleibt der ehemalige Vorsitzende der Europäischen Kommission Jacques Delors ein unermüdlicher Befürworter einer Teilung der Union, der Umgestaltung der Eurozone in eine echte Föderation und dafür, den Rest der Mitgliedsstaaten über Bord gehen zu lassen. Dieses Projekt findet glühende und redegewandte Befürworter in vielen Unionsstaaten.

Trotz all ihrer – hoffentlich vorübergehenden – Schwächen ist die Union für Europa absolut unverzichtbar. Nur die Vereinigung aller Kräfte und Ressourcen der europäischen Völker kann das Überdauern, die Entwicklung und die Ausstrahlung dieses großen Herdes der Zivilisation, wie ihn seit dreitausend Jahren die Alte Welt verkörpert, gewährleisten. Die äußeren und inneren Bedrohungen, vor denen die Union heute steht, sollten die Völker und Regierungen zu koordiniertem und energischem Handeln mobilisieren, um ihren Zerfall zu verhindern und sie für künftige Generationen zu bewahren.

Die Union ist Symbol und Verkörperung der epochalen Umbrüche, die in Europa vor einem halben Jahrhundert erfolgten. Die Schaffung der ersten Gemeinschaften brachte der seit Jahrhunderten durch religiöse, dynastische, nationale oder ideologische Konflikte zerrissenen und zerstörten Alten Welt eine neue politische Kultur, eine Kultur des Friedens, Dialogs, Kompromisses, des Aufbaus von Vertrauen, von Zusammenarbeit und Solidarität. Die Gemeinschaften und die Union, die sich aus ihnen bildete, waren ein neuartiges Beispiel einer freiwilligen, ausgeglichenen und organischen Vereinigung von Staaten und Völkern, die kapitale Bedeutung nicht nur für Europa, sondern auch für die anderen Kontinente und Zivilisationen besaß. Heute bemühen sich die Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens darum, dieses Beispiel nachzuahmen. Die Gemeinschaften und die Union sind auch ein präzedenzloses „System kommunizierender Röhren“ in der Form verbindlicher und ständiger Finanztransfers aus den mehr in die weniger entwickelten Staaten.

Wenn die heutige Krise Europa Folgen hätte, die denen ähnlich wären, die seine Krise des Jahres 1929 mit sich brachte – wenn es nicht gelingt, das wertvolle Kapital zu retten, das die europäische Integration repräsentiert – dann würde die Alte Welt eine der schwersten Niederlagen in ihrer Geschichte erleiden. Die am meisten entwickelten und stärksten europäischen Staaten – Deutschland, Frankreich, Großbritannien – könnten vielleicht mit größerem Erfolg der durch die Rückkehr zu „souveränen“ Politiken, zu den Zollschranken, nationalen Währungen und günstigen Abwertungen geschaffenen Lage die Stirn bieten, die die internationalen Beziehungen vor dem Zweiten Weltkrieg kennzeichnete. Für Polen aber wäre dies eine echte Katastrophe.

 

Polen und die Union

Die Existenz der EU und die Zugehörigkeit zu ihr haben für unser Land mit seiner geopolitischen Lage und seiner historischen Erfahrung lebenswichtige Bedeutung. Polen braucht die Union für seine Entwicklung, seine Sicherheit und seine internationale Bedeutung.

Wie oben erwähnt, bündeln im Westen die gegenwärtige Krise der Union und die Suche nach Mitteln, um sie zu beherrschen, die Aufmerksamkeit der Staats- und Regierungschefs, Minister, Parlamentarier und Wissenschaftler. Dabei werden andere Dinge, inklusive der revolutionären Ereignisse in der arabischen Welt, in den Hintergrund gedrängt. Die Informationen, Kommentare und Prognosen, die sich auf die Krise beziehen, nehmen in den Print- und Broadcast-Medien einen Spitzenplatz ein. In Polen dagegen herrscht zu diesem Thema eine erstaunliche Stille. Ganz als ob der Eiserne Vorhang unser Land immer noch von seinen westlichen Nachbarn trennen würde. Diese Situation illustriert die Wahl der Schwerpunkte für die polnische Ratspräsidentschaft. Aus den Äußerungen der Regierungsmitglieder, Politiker bzw. mehr oder weniger informierter Journalisten erfahren wir, dass diese Auswahl den Unionshaushalt für die Jahre 2014–2020, die Energiepolitik, die endgültige Öffnung des Binnenmarkts, die Dynamisierung der EU-Ostpartnerschaft usw. umfasst. Diese Dinge sind natürlich nicht unwichtig, aber in der gegenwärtigen Lage verdient es keines davon, die Liste der polnischen Prioritäten zu eröffnen. Alle gehören eher ins zweite Glied verglichen mit der fundamentalen Frage, was und wie man bewerkstelligen kann, dass die Europäische Union ihre Krise übersteht und wieder in ruhige Fahrwasser gerät (die Kommunikationsspezialisten sind dazu da, um diese Forderung in einen kurzen und knackigen Slogan zu fassen). Von der Erfüllung dieser grundlegenden Bedingung hängt die Realisierung anderer Aufgaben ab, die auf der bisherigen Prioritätenliste der polnischen Präsidentschaft verzeichnet sind.

Kann sich Polen eine Politik erlauben, die sich auf die Voraussetzung stützt: Wenn große und bedrohliche Herausforderungen auftauchen, dann werden Deutschland und Frankreich sich mit ihnen messen, wir aber können uns ruhig den Fragen beschäftigen, die uns näher stehen, um nicht zu sagen: mit Angelegenheiten auf unserem Niveau?

Nein, Polen kann sich das nicht erlauben. Das wäre eine zweitklassige Politik, die keinen Respekt verdient und die unseres Landes unwürdig ist. In seiner Geschichte war Polen über mindestens zwei Jahrhunderte ein großer und respektierter europäischer Staat – im politischen und kulturellen Sinne. Die Überzeugung, dass es zur Größe berufen ist, überdauerte die Epoche des Niedergangs, Zusammenbruchs und der Unfreiheit. Dies brachte der zu Unrecht heute vergessene Minister Krzysztof Skubiszewski in seiner Sejmrede vom 21. Januar 1993 zum Ausdruck: „Für Polen müssen die Ziele staatlicher Politik immer große bleiben. Das kommt aus unserer Geschichte, von unserem Platz in Europa, von den Herausforderungen des heutigen Tages und der kommenden Jahrzehnte her.“

Ja, die Republik Polen sollte sich – besonders während ihrer Präsidentschaft – in der ersten Reihe der Staaten befinden, die darum kämpfen, dass die Krise nicht den Zerfall der Union verursacht, oder nicht zu ihrer Lähmung und dann zur langsamen Agonie beitragen. Sie sollte als ein großes und reifes Land handeln, sich nicht auf Teilfragen konzentrieren, sondern die Verantwortung für die Union als Ganzes und ihre Zukunft übernehmen. Das ist das Interesse Europas, aber auch Polens.

Die deutliche Mehrheit der polnischen Gesellschaft nimmt – vom gesunden Menschenverstand geleitet – eine positive Haltung zur Union ein und ist damit zufrieden, ihr anzugehören. Die Europapolitik der gegenwärtigen polnischen Regierung ist positiv und konstruktiv. Leider zieht die Aktivität und Rhetorik der polnischen politischen Kräfte, die der europäischen Integration gegenüber negativ oder feindlich eingestellt sind, auch – wenn nicht sogar vor allem – die Aufmerksamkeit der Führungszentren und Medien in den Mitgliedsstaaten der EU auf sich. Dies geschieht umso mehr, als diese Kräfte nicht gering sind, schon die Macht innehatten und – wie das in einer Demokratie vorkommt – an sie zurückkehren können. Für diese Kräfte bedeutet die Union nach wie vor nicht „wir“. Sie bleibt etwas Äußeres und Fremdes, das sich dafür eignet, es auszunutzen, das aber weder Solidarität noch Loyalität und Unterstützung verdient.

In einem langen Interview für die „Rzeczpospolita“ (5.6.2009) hat der Anführer der heute wichtigsten Oppositionspartei in Polen eine ganze Liste von Vorteilen aufgezählt, die „wir von der Union erwarten können“, er ließ sich darüber aus, was die Union sein sollte, und was nicht, aber er erwähnte mit keinem Wort das, was die Union von Polen erhoffen kann. In einem Interview für „Wprost“ behauptete dieser Politiker, „man müsse sich in der Union geschickt breitmachen“. Er weiß bestimmt, wie man jemanden bezeichnet, der sich auf der europäischen Bühne ausbreitet. Die internationale Politik ist ein Dialog zwischen Menschen und das gute oder schlechte Ansehen, das ein Mensch in diesem Dialog erwirbt, wird auf das von ihm vertretene Land übertragen.

Hinter dem Politiker, von dem die Rede ist, und seiner engeren Mannschaft steht eine ganze Masse von Journalisten, Schriftstellern und Analytikern, die eifrig dazu ermuntern, ein Veto einzulegen, Spannungen und Unsicherheiten zu provozieren sowie – um die eigenen Worte bestimmter Professoren zu verwenden – „zeitweilige Konflikte, vorübergehende Affären“ auszulösen oder „aufzumucken“. Denn ihrer Meinung nach ist die Union eine Bedrohung für Polen. Oder wie es ein Professor aus Krakau sieht: „Die Union ist ganz und gar keine nach dem Vorbild eines Unternehmens verfasste Organisation. Es geht in ihr überhaupt nicht um Wohlstand. An die Spitze dieser ‚Obergemeinschaft‘ gerückt werden schon ganz andere, ideologische Argumente. Es geht um das Zerstören bestehender Identitäten, um das Untergraben der vor allem immer noch stark auf den Beinen stehenden nationalen Identitäten und Nationalstaaten, aus denen die EU besteht. Es geht darum, sie durch eine Art Vereinigung zu ersetzen, die nicht nur die nationalen Gemeinschaften aushöhlt, sondern in gewissem Sinne dem Begriff Gemeinschaft selbst widerspricht.“ (Rzeczpospolita, 24.-25.4.2010). Lassen wir die verblüffenden Bezüge und die weniger verblüffende sprachliche Form dieser Äußerung einmal beiseite. Unterstreichen wir vielmehr, dass sie repräsentativ für viele andere, ebenso von der Realität abgelöste und von einer wirren Fantasie diktierte Äußerungen ist.

In den Augen der polnischen Europhoben ist die Union eine Anhäufung unmöglich zu überwindender Gegensätze – die manchmal als „objektiv“ bezeichnet werden, wie dies einst die sowjetische Propaganda verkündete – wo jeder gegen jeden kämpft und man sich gegenseitig die Reste aus der Hand reißt. Ein gemeinsames europäisches Interesse gibt es demnach nicht und kann es nicht geben. Das einzig Reale ist das nationale Interesse. Der politische Darwinismus bleibt das ewige Recht der Beziehungen zwischen den Völkern. Seit Jahrhunderten hat sich nichts geändert und es kann sich auch nichts ändern. Wer anders denkt, ist entweder grenzenlos naiv oder dient fremden Interessen. Die Rhetorik dieses Typs ist begleitet von der Besessenheit, dass Polen in der Union schlecht behandelt wird und mit allen Mitteln danach streben muss, seinen Status als Rechtssubjekt wiederzuerlangen.

Die oben signalisierten Ansichten erfordern keinen Kommentar und man könnte sie mit einer Handbewegung wegwischen, wenn sie nicht zu unseren Partnern in der Union gelangen und – leider – die Grundlage dafür liefern würden, weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen und übertriebene Verallgemeinerungen zu formulieren. Die Anführer der Gruppierung, von der die Rede ist, und die sie unterstützenden medialen und universitären Milieus fügen Polen riesige Schäden zu. Sie kreieren ein Freundlichkeits- und Vertrauensdefizit Polen gegenüber, das überaus schwer zu überwinden ist. Gut hat dies der Titel eines Artikels in der „Gazeta Wyborcza“ (19.12.2009) zusammengefasst, der den Problemen gewidmet war, über die wir sprechen: „Es wäre ihnen lieber, wenn wir nicht in der Union wären.“

Die polnische EU-Präsidentschaft wird in vielerlei Hinsicht in der Tat nicht leicht und risikolos sein. Aber die Herausforderungen, die sie bringt, werden unserem Land gerecht.

 

 

Aus dem Polnischen von Markus Krzoska

Jerzy Łukaszewski 

Autor von Büchern und Aufsätzen zur Zeitgeschichte, den internationalen Beziehungen und zur europäischen Integration; er war von 1982 bis 1990 Rektor des Europa-Kollegs Brügge, 1990-1996 Botschafter Polens in Frankreich und von 1999-2002 Mitglied des Komitees für Europäische Integration der Regierung der Republik Polen; seit 2005 ist er Mitglied der Group of Political Analysis, eines beratenden Gremiums beim Präsidenten der Europäischen Kommission. Erschienen in: DIALOG Nr. 96 (2011)

Unsere europäischen Wurzeln - DIALOG-Gespräch mit Professor Jerzy Kłoczowski, dem Leiter des Instituts für Mittel- und Osteuropa in Lublin
Erschienen in: DIALOG Nr. 97

DIALOG-Gespräch mit Professor Jerzy Kłoczowski, dem Leiter des Instituts für Mittel- und Osteuropa in Lublin

Herr Professor, warum ist das Europa aus dem Titel Ihres Buches „unser“ Europa und erst „tausendjährig“?

Die Antwort auf diese Frage ist – anders als es scheint – sehr einfach, auch wenn sie häufig unterschätzt wird. In meinem Buch schrieb ich über „unser“ Europa als ein soziokulturelles Phänomen, dessen Teil auch wir Polen sind. Das Europa, das wir kennen, begann sich vor tausend Jahren zu formen, zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert – laut der Thesen der heutigen Mediävistik.

Nichtsdestotrotz reichen die Wurzeln „unseres“ Europas weiter zurück: Norman Davies datiert sie in seinem inzwischen zum Klassiker gewordenen – oder mindestens sehr populären – Buch „Europe“ doch viel früher.

In der Tat: „Europa“ ist ein viel breiterer und sehr komplizierter Begriff. Seine Wurzeln liegen im Judaismus und Christentum, im römischen Recht und in der römischen Staatlichkeit, in der griechischen Kultur und Philosophie. Auf der anderen Seite wird der Beitrag der sogenannten barbarischen – keltischen, germanischen und slawischen – Völker nicht genug beachtet. Erst vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen „Wurzeln“ entstand die äußerst originelle europäische Kultur des 11., 12. und 13. Jahrhunderts.

Das heutige Europa kristallisierte sich jedoch zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert heraus, nach der Christianisierung der Gebiete Mitteleuropas und des Großteils Skandinaviens. Damals trafen Polen, Böhmen, Ungarn, Norweger, Dänen und Schweden eine bestimmte Wahl. Zeitgleich kam in Kiew und Weliki Nowgorod das östliche Christentum auf – zu dem Zeitpunkt noch ein Teil einer und derselben Kirche. Es entstand die byzantinisch-slawische Welt, die als ein besonderer europäischer, sich von der westlichen Zivilisation unterscheidender Kulturkreis angesehen werden kann. Daher ist Europa erst seit tausend Jahren „unser Europa“.

War Polen bereits zu Beginn seiner Existenz ein offenes Land?

So kann ein Land bezeichnet werden, das eine bestimmte und bewusste Wahl getroffen hat. Polen gehörte von Anfang an zum westlichen Christentum, dabei hatte es keine feindliche Haltung gegenüber anderen christlichen Kulturen. Die Verbindungen zur Rus dauerten die ganze Zeit über an – sie begannen nicht erst im Jahre 1340. Die dortige Kultur und Tradition kam nach Polen zusammen mit den ruthenischen Prinzessinnen.

Polen war ebenfalls an den grundlegenden Veränderungsprozessen an der Jahrhundertwende vom 12. zum 13. Jahrhundert beteiligt, welche die europäische Kultur dauerhaft beeinflusst haben. Es ist traurig, wie manche Geschichtsforscher immer noch in ihren stereotypen Ansichten in Bezug auf das Mittelalter verharren. Beide Jahrhunderte werden aber zum Glück immer besser erforscht und ihre negative Rolle revidiert. Zu dieser Zeit entwickelte sich endgültig die europäische Ständegesellschaft mit dem Klerus, dem Ritterstand, dem Bürgertum und den Bauern. Auch in Polen fanden Reformen in den Städten und auf dem Lande statt. Im 13. Jahrhundert bildete sich ganz deutlich eine Gesellschaft heraus, die sich auf schriftlich niedergelegtes Recht stützte.

Um welche Werte wurde die europäische Idee infolge der Veränderungen im 12. und 13. Jahrhundert bereichert?

Der Humanismus spielte schon damals eine große Rolle, auch wenn spätere Legenden dem widersprechen. Zu seinen wichtigen Elementen gehörten Freiheit und das Gefühl persönlicher Verantwortung. Auch Thomas von Aquin stellte fest, die Stimme des Gewissens sei wichtiger als die Anordnungen irdischer Machthaber oder der Inquisition.

Der heutige Historiker steht vor der wichtigen Aufgabe, in der damaligen Tradition die humanistischen Elemente zu finden, die – leider – eher unbekannt sind. Man muss die Ergebnisse breit angelegter Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet kennenlernen, die seit hundert Jahren durchgeführt werden. Dennoch, in Bezug auf die genannte Tradition gibt es (parallel zu ihr, seit dem 12. Jahrhundert) die Furcht um die Einheitlichkeit. Das kulturelle Fundament stellte das Christentum dar, und Einheitlichkeit ist etwas, was angestrebt werden sollte. So sollte der Staat ein katholischer Organismus werden, und von dieser Vorstellung rührten die Verfolgungen von Ketzern und mit der Zeit auch von Juden her. Der Kampf gegen den Islam war etwas vollkommen anderes – er begann im 7. Jahrhundert und zog sich über Jahrhunderte. Seitdem verlief die europäische Tradition gewissermaßen zweigleisig – humanistisch und politisch. Politisch bedeutete in diesem Fall eine Gewährleistung konfessionellen Zwangs.

Sehen wir die Ergebnisse dieser Entwicklung in Europa bis heute?

Der Totalitarismus scheint ein entfernter Sprössling solch einer Zwangseinheitlichkeit zu sein, der Humanismus ist wiederum ein Vorfahre im Kampf um die Menschenrechte.

Das Problem, das ich vorhin skizziert habe, wird jedoch bis heute relativ stereotyp aufgefasst. Vieles deutet darauf hin, dass sich beispielsweise die Dominikaner (die zu Unrecht ganz eindeutig mit der Inquisition assoziiert werden, auch wenn sie oft zu Inquisitoren ernannt wurden) zunächst mit Missionstätigkeit beschäftigten.

Im 16. Jahrhundert wurde in Deutschland das Prinzip „cuius regio, eius religio“ sakralisiert. Der Augsburger Reichs- und Religionsfrieden, der den zweiten Religionskrieg im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation beendete, sollte ein Heilmittel gegen derartige Konflikte werden. In ein und demselben Staat durften entweder Protestanten oder Katholiken leben. Anders gestaltete es sich in der polnisch-litauischen Rzeczpospolita oder den Niederlanden.

War das im 20. Jahrhundert aufoktroyierte Prinzip „ein Volk, ein Staat“ nicht gewissermaßen eine Fortsetzung der Augsburger Denkweise? Die Abschaffung eines Problems durch die Abschaffung von Differenzen?

Selbstverständlich. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Tradition der „Vereinheitlichung“ außergewöhnlich stark ist, und zwar in verschiedenen Formen. In Frankreich, wo es einen starken Absolutismus gab, wurde ebenfalls das Prinzip eingeführt: „ein König, ein Gesetz, ein Glaube“.

Was die Französische Revolution für ihre Ziele adaptierte.

In gewissem Sinne war der Kult des höchsten Wesens oder der Handlungsweise Napoleons, der Bischöfe wie eigene Generäle behandelte, eine Konsequenz davon. Die Europäer waren gegen ein solches Modell.

Um noch einmal auf die Rzeczpospolita zu kommen – abgesehen von jeglicher Idealisierung: Hier lebten verschiedene Gemeinschaften nebeneinander.

Es wird häufig gesagt, die Rzeczpospolita sei ein gewisses Vorbild für die künftige Integration Europas. Eine solche Denkweise war hauptsächlich vor ein paar Jahren populär. War das eine Folge der europäischen Idee oder ein zufälliges Resultat historischer Faktoren?

Ich bin immer fester davon überzeugt, dass es der Humanismus des 12. Jahrhunderts war, der Menschen herausbrachte, die durch ihre Wirkung in akademischen und höfischen Kreisen zur Erziehung politischer Eliten beitrugen. Die festen und offenen Beziehungen zum Osten wiesen darauf hin, dass es ein anderes Modell des Christentums gab. Dies wiederum wurde zur Grundlage für die Akzeptanz der Vielfalt und der späteren multinationalen Rzeczpospolita.

Kann man die Behauptung riskieren, dass eben die Rzeczpospolita Erbin der universellen Ideen des Humanismus wurde – und nicht England, Frankreich, das Heilige Römische Reich oder ein anderes Land?

Ich stimme dieser Meinung zu. Aber es sind eben die Erfahrungen des Deutschen Reiches, der Schweiz und der Rzeczpospolita, die miteinander verglichen werden sollen, vor allem unter dem Aspekt der Akzeptanz der Vielfalt.

In der Rzeczpospolita waren jedoch die Grenzen zwischen den Gemeinschaften nicht eindeutig definiert. Im Deutschen Reich war die Trennung relativ stark.

Es gibt ein wichtiges Fazit der soliden, vergleichenden Forschung zum Deutschen Reich und zur Rzeczpospolita, insbesondere den gesellschaftlich-kulturellen Aspekt betreffend. Die Rzeczpospolita und das Deutsche Reich – und genauer gesagt, ein erheblicher Teil deren Sozialgeschichte – widersprechen dem Stereotyp, dass Geschichte hauptsächlich aus Kriegen bestehen würde. Ein Beispiel für ein gescheitertes Religionsexperiment ist Böhmen, wo man nach Jahre andauernden Kriegen (eben nach Religionskriegen) einen gesellschaftlichen Kompromiss erreicht hatte, der erst von den Habsburgern zerstört wurde – den Befürwortern einer aufoktroyierten Homogenität. Nebenbei gesagt, die Dechristianisierung Böhmens zeigt uns, welche Prozesse an den Orten stattfinden können, die von Fundamentalisten regiert werden. Solche Phänomene haben in der Regel traumatische Folgen.

Man könnte meinen, wenn Hitler nicht aus einem kulturell einheitlichen Milieu stammen würde und Stalin nicht unter dem Einfluss der schwarz-weißen Axiologie eines Priesterseminars aufgewachsen wäre, wären die Totalitarismen nicht so grausam gewesen, denn sie hätten nicht das verdorbene theokratische Element enthalten.

Da ist etwas dran – Toleranz führt nicht zum Totalitarismus. Es gibt übrigens auch andere Beispiele in der Geschichte. Der Islam, der noch vor tausend Jahren dem Westen überlegen war und dann die theokratische Richtung einschlug, fing nach ein paar Jahrhunderten an, sich kulturell zu erschöpfen. Die freiheitlichen Elemente, die im christlichen Europa erhalten blieben, wie zum Beispiel die Souveränität verschiedener Gruppen, ethische Prinzipien und verschiedene Formen vom Unternehmungsgeist der Menschen, bewahrten die europäische Kultur und erlaubten es ihr, sich auf andere Kontinente auszubreiten.

Also könnte man die Behauptung riskieren, dass die europäische Kultur des 11. und 12. Jahrhunderts gewisse Mechanismen schuf, die sie dann vor dem Totalitarismus schützten?

Mit Sicherheit. Nehmen wir zum Beispiel die Hervorhebung des Gesetzes und des Gewissens zu Grundwerten. Das europäische Individuum wusste, dass es für sich selbst verantwortlich sei – sein Handeln war Folge seiner Entscheidungen. Jacques Le Goff belegte, dass die Einführung der mündlichen Beichte Ende des 12. Jahrhunderts – was die damaligen Priester nicht verstanden – weitreichende Folgen nach sich zog: Du selbst bist derjenige, der die eigenen Sünden gesteht. Du analysierst dich selbst. In der akademischen Kultur wiederum herrschte das Prinzip „sic et non“. Mit „pro und contra“ konnte bei jeder Frage argumentiert werden – dies betraf sogar auch die Bibel, was zusätzlich freiheitsfördernd war. Über den Koran – in der Welt des Islams – wurde nicht mehr auf diese Art und Weise diskutiert.

Kehren wir noch einmal zur Debatte über den „provinziellen“ Charakter der Rzeczpospolita zurück. Waren die Verwahrer der sogenannten europäischen Idee nicht nur Voltaire oder Erasmus von Rotterdam, sondern zum Beispiel auch die Konföderation von Warschau (ein Rechtsakt zur Bildung einer Generalkonföderation für die Tagung des ersten Konvokationssejms im Jahre 1573, der als der Beginn einer rechtlich gesicherten konfessionellen Toleranz gilt) und die im Alltag praktizierte Toleranz polnischer Könige und Magnaten auf ihren Gütern? Somit wäre die Rzeczpospolita nicht mehr Provinz, sondern für die europäische Idee von „zentraler“ Bedeutung?

Dieses Problem wurde in den bisherigen Synthesen der Geschichte Europas nicht wahrgenommen. Die Sachlage ändert sich gerade durch die Arbeit zahlreicher zeitgenössischer Historiker. Es geht nicht nur um Norman Davies. Als Ambroise Jobert ein Buch über die polnische Toleranz schrieb – zu dem Zeitpunkt fand das Zweite Vatikanische Konzil statt – sagte er mir immer wieder, dass er beim Lesen der Schriften dieses Konzils all das wieder fand, was er zuvor in den Werken polnischer Denker und Politiker lesen konnte. Das ist bezeichnend. Am interessantesten ist jedoch, dass die Konföderation von Warschau beispielsweise im Gegensatz zum Edikt von Nantes (aus dem Jahre 1598, das zum Ende der in Frankreich 30 Jahre lang dauernden Religionskriege beitrug, indem es Religionsfreiheit und Gleichberechtigung der Protestanten mit den Katholiken einführte) kein Werk des Königs war, sondern eine freiwillige Verpflichtung der Landtage aus den Gebieten von Kiew bis Danzig.

War die Rzeczpospolita eines der wichtigsten gesellschaftlichen Phänomene im letzten europäischen Jahrtausend?

Trotz ihrer Defizite: ja.

Lag die große Stärke des Ökumenismus im Verständnis von Johannes Paul II. nicht darin, dass sich dieser in den Kreisen herausgebildet hat, die von dieser Tradition viel übernommen haben?

Ich wurde einmal vom italienischen Fernsehen gefragt, woher „unser Papst“ das Wissen um die Fähigkeit hätte, mit anderen Menschen in Dialog zu kommen – mit Muslimen, Juden, Sozialisten – und dabei er selbst zu bleiben. Meine Antwort lautete, dass es von den soliden Werten unserer Kultur herrühre. Er wurde auf eine bestimmte Art und Weise geprägt. Ohne die Polen idealisieren zu wollen: Johannes Paul II. war ein Beweis für den Erfolg dieses Aspekts unserer Geschichte.

Es gibt immer noch den Mythos der Französischen Revolution. Was bedeutete diese Auflehnung wirklich für Europa?

Ihre Sakralisierung wurde durch die Machthaber in der Dritten Französischen Republik gegen Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen. Im 18. Jahrhundert nahm die Notwendigkeit zu, die geltenden gesellschaftlichen Beziehungen zu verändern. Die Ständegesellschaft hat sich überlebt – die Aufteilung in diejenigen, die arbeiten, und diejenigen, die regieren, war nicht mehr aktuell.

In Großbritannien hat man es verstanden, dass Veränderungen eingeführt werden mussten.

Großbritannien wurde damit viel besser fertig. Nichtsdestotrotz war es die amerikanische Revolution, die den wirklichen Wendepunkt schaffte. Es waren die USA, die Religionsfreiheit einführten, denn da wurde die Instrumentalisierung der Kirche durch den Staat nicht angestrebt. Das Erbe der amerikanischen Revolution hält bis heute an, schon allein durch die bis heute geltende Verfassung.

Die Französische Revolution war aber nicht der erste moderne Totalitarismus – vielleicht mit Ausnahme der Jakobinerzeit. Lenin soll gesagt haben, dass man alles besser erreichen könne, wenn man die Erfahrungen der Jakobiner nutzen würde.

Es ist ihm auch gelungen …

Der Französischen Revolution verdanken wir auf jeden Fall die Einführung vieler erhabener Ideen in den europäischen Diskurs, die Vollziehung eines gigantischen gesellschaftlichen Wandels und die Errichtung des Fundaments für die Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Die umfassende Demokratie wurde erst im 20. Jahrhundert endgültig eingeführt.

Sie wuchsen in Zeiten auf, als die französische Kultur für Europa enorm wichtig war. Meine Generation erlebte diese Faszination nicht mehr. Aber eben von da kam die Idee der europäischen Integration, auch wenn Robert Schuman auf der anderen Seite doch ein „besonderer“ Franzose war: ein „Mensch eines Grenzgebiets“.

Die aus einem Grenzgebiet stammenden Menschen (dazu gehörten auch Alcide De Gasperi oder Konrad Adenauer, aber auch der polnische „Vater Europas“ Józef Rettinger) können die Welt besser verstehen. Polen war ein Land der Grenzgebiete, sowohl der inneren, als auch der äußeren.

Vor ein paar Jahren trat Polen der Europäischen Union bei, aber man kann schon deutlich sehen, dass die europäische Idee ihre einstige Schwungkraft verloren hat. Die Lage Polens im Grenzgebiet, die als automatisches Verständnis des Ostens angesehen wurde, sollte auch unsere Stärke sein.

Wir Polen erzählen, wir seien Polen und Europäer. Dem Westen vertrauen wir nicht vollkommen. Wir sind der Meinung, dass eine Tragödie passieren wird, wenn wir uns gegenüber dem Westen und dem Osten verschließen. Für Polen wäre das auf jeden Fall ein kultureller Tod. Das Phänomen der Globalisierung führt zur Entstehung von Schutzghettos, was uns einmal, vor Jahrhunderten, die Juden gezeigt haben. Sich dabei auf das Christentum zu beziehen, ist ein Nonsens – hätte sich diese Religion vor zweitausend Jahren in Jerusalem eingeschlossen, hätte sie nichts erreicht.

Wird die europäische Kultur die Veränderungen überstehen? Die Gesellschaften ändern sich, aber es bleibt doch die Kultur?

Ich denke, dass die europäische Kultur die Konfrontation mit der neuen Realität erfolgreich überstehen wird. Einst war sie attraktiv für die Einwohner Asiens oder Amerikas, und jetzt kann sie sich als eine bessere Alternative für Immigranten erweisen.

„Unser tausendjähriges“ Europa bedeutet also eine Verbundenheit mit Werten bei gleichzeitiger Öffnung, ohne dass dabei unsere Ansichten verworfen werden.

Gewiss, aber Europa verändert sich zwangsläufig. Den großen Reichtum der europäischen Kultur stellen ihre Vielfalt und ihre – heutzutage besonders hervorgehobene – Multikulturalität dar. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Europa seine Stellung in der Welt verliert. Das Gewicht verlagert sich in Richtung Asien, Afrika und Südamerika.

 

 

Aus dem Polnischen von Monika Satizabal Niemeyer

Jerzy Kłoczowski (geb. 1924), Historiker, ehem. Angehöriger der Heimatarmee (AK), kämpfte im Warschauer Aufstand; studierte in Posen und Thorn. Seit 1950 arbeitet er an der Katholischen Universität Lublin (KUL). In seiner Forschung befasst sich Kłoczowski mit der Geschichte Polens vor den Teilungen und im 19. Jahrhundert, mit der Geschichte des Christentums in Polen und der Geschichte der Orden sowie mit der Geschichte Ostmitteleuropas. ● Kłoczowski ist u. a. stellvertretender Vorsitzender des Polnisch-Ukrainischen Forums (seit 1999), Mitglied des Nationalrats für Europäische Integration (seit 2001), des wissenschaftlichen Beirats der Katholischen Universität Lublin und des wissenschaftlichen Beirats des Johannes-Paul-II.-Instituts der KUL; Kovorsitzender der polnisch-weißrussischen Schulbuchkommission (seit 1992), Mitglied des Beirats des Staatlichen Museums Majdanek (seit 1998) sowie der Polnischen Akademie der Gelehrsamkeit (seit 2004), Ehrenmitglied der Polnischen Historischen Gesellschaft (seit 2002) sowie der Posener, Warschauer und Lubliner Wissenschaftsgesellschaft. ● Seit 2002 leitet Kłoczowski das Instituts für Mittel- und Osteuropa in Lublin. ● Kłoczowski unterrichtete u. a. am Collège de France, am Merton College, an der University of Oxford, University of Madison-Wisconsin. Er ist Träger der Ehrendoktorwürde der Universität von Hrodna, der Kiew-Mohyla-Akademie, der Freien Universität Berlin sowie der Pariser Universität Sorbonne. ● 2010 veröffentlichte er das Buch „Nasza tysiącletnia Europa“ (Unser tausendjähriges Europa). Erschienen in: DIALOG Nr. 97 (2011)