Ausgewählte Artikel und Leseproben zu osteuropäischen Themen

Metamorphosen der Ukraine
Erschienen in: DIALOG Nr. 111

Iza Chruślińska im Gespräch mit dem amerikanischen Historiker Timothy D. Snyder, Professor an der Yale University und Spezialist für den modernen Nationalismus und Ostmitteleuropa

Vom Jahr 2014 geht die Rede, es habe die Ukraine und vielleicht die ganze Welt verändert. Welche Vorgänge, welche Änderungen halten Sie in diesem Zusammenhang für die wichtigsten?

Ich möchte mit dem beginnen, wofür der Majdan steht. Schon vor dem Majdan gehörten zu den schwierigsten Problemen der ukrainischen Gesellschaft die Korruption und die fehlende Rechtsstaatlichkeit. Mir ist schon klar, dass in der Ukraine jetzt Krieg herrscht, allerdings kann kein Land einen Krieg ohne einen funktionierenden Rechtsstaat gewinnen, selbst wenn es von der ganzen Welt unterstützt wird. Rechtsstaatliche Verhältnisse sind die Grundlage für alles Übrige. Die Ereignisse des Majdans sind von großer Bedeutung, jedoch unabhängig davon bleiben für die Ukraine die Bekämpfung der Korruption und die Schaffung eines funktionsfähigen Rechtsstaates lebenswichtig. Der Majdan war nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die Herrschaft einer kleinen Oligarchie, ebenso wie auf die Korruption, auf die fehlende Rechtssicherheit im Alltag, auf das fehlende Gefühl von Stabilität. Der Majdan hat gezeigt, wie viel die ukrainische Gesellschaft zu riskieren bereit ist, um sich einen solchen Staat zu verschaffen und europäische Werte in der Ukraine zu verankern.

Das Unverständnis des Westens für den Majdan beruhte darauf, dass die einen darin eine exotische Erscheinung sehen wollten, die anderen wiederum davon überzeugt waren, die Ukrainer wünschten sich, symbolisch gesprochen, einen „Bandera“ [Stepan Bandera (1909‒1959), im Zweiten Weltkrieg Führer des ukrainischen nationalistischen Untergrunds; A. d. Ü.] oder sie wünschten sich Krieg, also Dinge, die für den Westen unverständlich sind oder die er missbilligt. Dabei war es gerade umgekehrt, die Ukrainer wollen, was wir schon lange haben, nämlich einen auf Rechtssicherheit aufgebauten Staat. Vielleicht verwenden sie zu diesem Zweck Mittel, die uns zu radikal erscheinen mögen. Einen hohen Blutzoll zu zahlen für Werte, die uns scheinbar für alle Zeiten gegeben sind, zeugt meines Erachtens von Entschlossenheit und Reife der ukrainischen Gesellschaft, nicht von ihrer Schwäche.

Die Ukraine ist im vergangenen Jahr zu einem geopolitischen Faktor in der Weltpolitik geworden. Doch das passierte nicht während des Majdans selbst, sondern nach der Annexion der Krim und anschließend der russischen Militärintervention im Osten der Ukraine. Diese Ereignisse haben die Lage in ihr Gegenteil verkehrt. Die Tatsache, dass ein Staat über einen anderen hergefallen ist, hat die ganze bisherige europäische Ordnung gründlich verändert.

Eine der wichtigsten Veränderungen in der Ukraine ist der durch den Majdan eingeleitete Prozess ‒ ich spreche von der Bildung einer politischen Nation. Der Krieg mit Russland hat diesen Prozess beschleunigt und verstärkt. Außerhalb der Ukraine wird nur wenig verstanden, wieso dort die Bildung einer politischen Gemeinschaft nicht schon früher gelungen ist.

Der Majdan hat gezeigt, dass es etwas Neues gibt ‒ eine politische Nation.

Ersten waren die Ziele der Protestbewegung politische Ziele. In dieser Hinsicht würde ich Ähnlichkeiten des Majdans zur Solidarność-Bewegung im Polen der 1980er Jahre sehen. Damals meinten einige Experten aus dem Ausland, in dieser Bewegung zeige sich der polnische Nationalismus. Zu Unrecht, da die Ziele der Solidarność nicht auf Gefühlen beruhten, sondern sorgfältig durchdacht waren. Mit dem Majdan verhielt es sich ähnlich, es war rasch klar, dass es sich um eine Bewegung handelte, die sich gesellschaftliche und politische Ziele setzte.

Zweitens hat der Majdan gegen die Befürchtungen des Westens bewiesen: Für die ukrainische Gesellschaft stehen nicht Ethnizität oder Sprache im Mittelpunkt, sondern ganz andere Dinge. In Wahrheit rühren diese Befürchtungen des Westens eher aus unseren eigenen Obsessionen. Wir selbst möchten, dass die Ukrainer als Nation daran interessiert sind, den Nationalismus wiederzubeleben. Das ist übrigens ganz interessant, weil es bedeutet, die Ukrainer seien als Nation politisch viel reifer als unsere Gesellschaften im Westen oder in den Vereinigten Staaten. In Deutschland oder in Polen spielt Ethnizität eine wichtige Rolle, in Westeuropa verhält es sich überall so. In dieser Haltung des Westens lässt sich auch eine Widerspiegelung vieler Stereotype über die Ukraine finden, die seit wenigstens zwei Jahrhunderten fest verankert sind, nicht zuletzt dank Russlands. Darunter befindet sich an vorderster Stelle die angebliche Bedrohung durch den ukrainischen Nationalismus. Dagegen hat der Majdan, ich wiederhole nochmals, etwas völlig Entgegengesetztes an den Tag gelegt. Dort wurde, abhängig von der Situation, mal ukrainisch, mal russisch gesprochen. Opfer des Majdans waren Menschen unterschiedlicher Nationalität: Ukrainer, Juden, Belarussen, Polen, Armenier ‒ das erste Opfer eines Scharfschützen aus der Berkut-Spezialeinheit war ein Armenier namens Sergej Nigojan.

Der Majdan hat auch signalisiert, es sei nicht einmal nötig, sich auf ein gemeinsames Geschichtsbild zu beziehen, um eine politische Nation in der Ukraine zu bilden. Eine Nation entsteht auch dadurch, dass die Menschen gemeinsam Risiken auf sich nehmen und gemeinsam handeln im Interesse der Werte, welche die Menschen einen. Selbst die schönsten historischen Mythen schaffen nicht aus sich heraus die Nation, die Nation erschafft ihr eigenes Geschichtsbild, wenn sie bereits im Entstehen begriffen ist. Ganz im Vordergrund steht dabei das Gefühl, wir bilden eine Nation, indem wir uns für die richtige Sache einsetzen, und wir sind bereit, dafür den höchsten Preis zu zahlen.

Das letzte Jahr leitete noch einen weiteren wichtigen Prozess ein, nämlich den der kulturellen Absonderung von Russland. Obwohl die Politik des Russländischen Reiches und danach der Sowjetunion darauf ausgerichtet war, die ukrainische Identität und die ukrainischen Eliten zu vernichten, hat das auf das Verhältnis der meisten Menschen in der Ukraine zu Russland nach 1991 keinen Umkehrungseffekt ausgelöst. Vielmehr erhielten sich die traditionell starken gefühlsmäßigen Beziehungen zu den Russen und ihrem Land. Daher hinterlässt diese Abnabelung von Russland so einen starken Eindruck, auch auf die Ukrainer selbst.

Den Ausschlag gab die Annexion der Krim wie auch die Tatsache, dass (den ganzen Artikel lesen)

Von den friedlichen Revolutionen 1989 bis zum Euromajdan 2014
Erschienen in: DIALOG Nr. 110

Welche Faktoren haben zum Zusammenbruch des Sowjetblocks geführt? Wie hat sich Europa in Folge der samtenen Revolutionen verändert? Wie geht heute Europa mit demokratischen Revolutionen in Osteuropa um?

Basil Kerski im Gespräch mit Zbigniew Janas, Dietmar Nietan, Lutz Rathenow und Mykola Rjabtschuk

Basil Kerski: Der 25. Jahrestag des Untergangs des Kommunismus wurde in Mitteleuropa intensiv begangen. Dabei konnten wir beobachten, wie die Ereignisse von 1989 weniger anhand europäischer und weltpolitischer, als nationaler Sichtweisen gedeutet werden. Die in Jalta entwickelte Nachkriegsordnung Europas brach 1989 durch den friedlichen Protest der Menschen in Mittel- und Osteuropa zusammen. Die Revolutionen von 1989 eröffneten die Chance zur Demokratisierung weiter Teile Europas, in der Konsequenz ebenso zur Vereinigung der deutschen Staaten und damit zum Abzug sowjetischer Truppen aus Mitteleuropa. In den Jahren zwischen 1989 und 1991, in der Zeit des Runden Tisches in Warschau, des Sieges der Solidarność, der Revolutionen des Herbstes 1989, der Vereinigung der deutschen Staaten 1990 und des Zusammenbruchs der Sowjetunion im Dezember 1991 konnte eine neue europäische Ordnung entstehen. Herr Janas, welche Faktoren mobilisierten aus Ihrer Sicht die polnische Zivilgesellschaft, deren Streben nach mehr Freiheit im Jahr 1989 ihren Höhepunkt erreicht hatte?

Zbigniew Janas: Als ich 1978 meine oppositionelle Tätigkeit aufnahm, war ich Arbeiter in einem großen Betrieb und nichts deutete darauf hin, dass es zu meinen Lebzeiten zu irgendwelchen Systemveränderungen kommen würde. Die Sowjetunion war mächtig, Polen war von kommunistischen Ländern umgeben. Ich hatte lange darüber nachgedacht, weshalb ich, als ein Teil des Arbeitermilieus, in der Opposition aktiv wurde. Was gefiel mir nicht am Sozialismus, am Land der Arbeiter und Bauern? Nun, es gab einen Aspekt, der eigentlich selten als Ursache für den Übergang zur Opposition genannt wird, nämlich die Eintönigkeit des Systems. Ab einem gewissen Punkt war ich es leid, diesem ganzen Neusprech der kommunistischen Funktionäre zuzuhören, die absolut nichts mit der Realität des Alltags gemein hatte.

Die Dynamik der Ereignisse, von der die Gesellschaft und Politik im Jahr 1989 geleitet wurden, zeichnete sich durch Spontanität und Unvorhersehbarkeit aus. Ich erinnere mich, wie noch vor den Wahlen im Juni nur wenige weltweit, sowohl in Westeuropa als auch in Amerika, an einen großen Durchbruch glaubten. Alle erwarteten irgendwelche Änderungen, aber man ging davon aus, diese würden evolutionärer Natur sein. Wir bemühten uns, die Welt davon zu überzeugen, dass es in kürzester Zeit in Polen und Mitteleuropa zu einem gravierenden Wandel kommen werde. Wir hatten jedoch keine absolute Gewissheit, ob wir unser Wort halten können.

Die Endphase des Kommunismus in Mitteleuropa war eine einzigartige Zeit, als die unerwarteten Veränderungen in diesem Teil des Kontinents Wirklichkeit wurden. Ich wurde noch im August 1988 verurteilt und saß im Gefängnis; bereits ein Jahr später war ich Parlamentsabgeordneter. In jenen Tagen organisierte ich eine Fahrt nach Prag, wo wir, ehemalige Oppositionelle, die nun zu Abgeordneten wurden, uns mit unseren tschechischen Freunden trafen. Václav Havel glaubte nicht im Traum daran, in der Tschechoslowakei könnte es zu einem ähnlichen Umschwung kommen. Als wir die Karlsbrücke entlang spazierten, gewannen wir, die polnische Delegation, einen anderen Eindruck. Wir spürten die Stimmung, die unter all den Menschen herrschte, lauschten den Unterhaltungen zu und wussten: Auch in diesem Teil Europas neigte sich der Kommunismus dem Ende zu. Havel konnte sich ebenfalls nicht vorstellen, dass er in ein paar Monaten Präsident werden würde. Mein Freund und Dissident Jiří Dienstbier wurde im November zum ersten nichtkommunistischen Außenminister der Tschechoslowakei ernannt, wobei er noch als Heizer in einem Kesselhaus arbeitete. Von dort aus wurde er abgeholt und direkt in das Außenministerium gefahren. Die Dynamik war also unvorhersehbar.

Basil Kerski: 1989 fiel nicht nur die Berliner Mauer, sondern auch der Eiserne Vorhang, der sowohl den freien Westen vom sowjetisch dominierten Osten trennte als auch innerhalb des Ostblocks verlief: Die polnisch-sowjetische (ukrainische) und polnisch-deutsche Grenze waren sehr gut bewacht. Die Schwäche des kommunistischen Systems hatte den Oppositionellen in Mittel- und Osteuropa Mut gemacht, doch erfolgte der Zusammenbruch der Sowjetunion von 1991 nicht auf einen Schlag. Herr Rjabtschuk, welche Entwicklungen in den 1980er Jahren begünstigten den Kollaps des Systems?

Mykola Rjabtschuk: Meiner Meinung nach gab es in den 1980er Jahren zwei grundlegende Ursachen – strukturelle und menschliche, die den Ereignissen von 1989–1991 den Weg geebnet hatten. Die strukturellen Ursachen sind bekannt: Das kommunistische System wurde zunehmend spürbar ineffizient. Es war klar, dass es früher oder später zusammenbrechen würde. Es hätte allerdings noch einige Generationen fortbestehen können, wie zum Beispiel in Nordkorea.

Seit Beginn der 1960er Jahre konnte die Sowjetunion, trotz aller Bemühungen, die Landwirtschaftsproduktion nicht mehr steigern. Um die eigene und die Bevölkerung der Satellitenstaaten ernähren zu können, musste die UdSSR immer mehr Getreide kaufen, das dann mit Geldern aus dem Ölverkauf bezahlt wurde. In den 1980er Jahren hatte sich diese Krise enorm verschärft, da die USA das Wettrüsten einleitete und somit die UdSSR zu mehr Militärausgaben zwang. Zudem war der Ölpreis dramatisch gesunken. Die Sowjetunion musste Konkurs anmelden. Auch wenn sie zu jener Zeit Gewalt gegen den „Umsturz“ in Polen und der DDR hätte anwenden wollen, so wäre sie dazu nicht in der Lage gewesen, denn wer Schulden abbezahlen muss, kann nur schwer neue Kredite zur Finanzierung von militärischen Maßnahmen aufnehmen.

Die strukturellen Faktoren schwächten die Sowjetunion zwar sehr, besiegelte indes nicht ihr Schicksal. Ohne die Bedeutung der Oppositionsbewegungen in den Satellitenstaaten, insbesondere der polnischen Solidarność schmälern zu wollen, müssen wir zugeben, Michail Gorbatschow spielte eine Schlüsselrolle in den 1980er Jahren. Er hatte keine Zukunftsvision für das System. Um es zu reformieren, musste er improvisieren. Dabei beging er einen grundlegenden Fehler: Er schwächte den Stellenwert der kommunistischen Partei. Doch das ganze System war ohne die Partei nicht in der Lage, zu funktionieren. Alle staatlichen Einrichtungen wurden von der Partei gelenkt. Solange diese existierte, funktionierten die Institutionen. Ohne die Partei fingen sie an, auf eigene Faust zu handeln, sich gegenseitig zu bekämpfen, bis sie schließlich zusammenbrachen. Dies war vor allem in den Mitgliedsstaaten der UdSSR zu beobachten, als die Parlamente der einzelnen Sowjetrepubliken – es handelte sich um rein „dekorative“ Parlamente, die von Stalin zum Schein eingesetzt wurden – plötzlich die Rolle von Nationalparlamenten übernahmen.

Diese von Gorbatschow durchgeführte Systemlockerung war entscheidend und ebnete den Weg für jene Gesellschaftsbewegungen, die man zuvor zu unterdrücken versucht hatte. Dissidenten in allen Ländern konnten schrittweise aus dem Untergrund hervortreten und die Gesellschaft mobilisieren. Dem gesellschaftlichen Druck am Ende der 1980er Jahre konnte das reformierte System nicht mehr standhalten.

Basil Kerski: 1989 wurde der Kulminationspunkt all jener Prozesse erreicht, die von Anbeginn die Existenz des kommunistischen Systems in Mitteleuropa infrage stellten. Es sind die dramatischen Ereignisse von 1953, 1956, 1968 und 1980/1981, die in diesem Teil Europas im kollektiven Gedächtnis verankert waren und letztendlich den gewaltfreien Weg zur Revolution von 1989 geformt hatten. Herr Rathenow, wie erlebten Sie die Umbruchzeit Ende der 1980er Jahre in der DDR? Welchen Einfluss hatten die Ereignisse außerhalb der DDR auf die Gesellschaft?

Lutz Rathenow: Ich bin in Jena aufgewachsen, dieser kleinen thüringischen Stadt, die mir unendlich langweilig erschien. Wir waren verschiedenen europäischen Komponenten ausgesetzt, die dazu anregten, dieser monotonen, parteigeprägten und organisierten Alltagsgeschichte entgegenzuwirken. Jena war eine Stadt, die 1945 von den Amerikanern befreit wurde, weshalb unser Verhältnis zu den sowjetischen Truppen anders war, als in den von der Roten Armee befreiten deutschen Ortschaften. Für meine Mutter und viele Vertreter ihrer Generation war es unmissverständlich, dass die Amerikaner uns befreit und die Russen besetzt hatten. Ähnlich war es in Leipzig, Plauen, Halle und weiteren Orten, in denen sich am 17. Juni 1953 und später 1989 Widerstand formierte.

Wenn wir von europäischen, internationalen Komponenten sprechen, die Einfluss auf den Alltag und das gesellschaftliche Bewusstsein hatten, so mag heute das Bild vorherrschen, als hätte es dies in der DDR kaum gegeben. Doch die Wirklichkeit sah manchmal ganz anders aus. Ich erinnere mich gut an meine Aufenthalte in Ost-Berlin, wo in den Kaufhäusern am Frankfurter Tor Scharen von amerikanischen, britischen und französischen Soldaten alles Mögliche einkauften, weil es günstiger als in Westberlin war. Ich hatte zu Zeiten der DDR mehr Soldaten der „feindlichen imperialistischen Armeen“ gesehen, als Soldaten der Roten Armee, die außer auf Paraden in den Kasernen blieben und sich nicht in der Berliner Innenstadt bewegen durften. Ich erinnere mich ferner an eine Gruppe von georgischen Studenten, die dadurch auffielen, dass sie nicht mit Russen reden wollten. Gleichzeitig waren sie glühende Verteidiger der Stalin-Denkmäler in Georgien. Mir wurde damals bewusst, dass es nicht ausreichte, die Welt in gut und böse einzuteilen, lediglich anti-russisch zu sein, um den Kommunismus aufzulösen.

Bis zu meinem Arbeitsverbot leitet ich einen Literatur-Arbeitskreis in Jena. Wir setzten uns intensiv mit der polnischen Literatur auseinander, mit Sławomir Mrożek, Zbigniew Herbert, Tadeusz Różewicz. Sowohl die in der DDR erschienene als auch die aus dem Westen über die Leipziger Buchmesse oder andere Kanäle hinausgeschmuggelte Literatur waren für uns von Interesse. Wir versuchten, jede zugängliche Form von Fremdheit zu rezipieren, die die DDR-Dominanz poröser machte.

Die Existenz Westberlins war dabei von zentraler Bedeutung, denn dort lebten viele aus der DDR ausgebürgerte Personen, unter anderem Schriftsteller, die Texte mitteleuropäischer Autoren übersetzten. Es gab vielfältigste Emanzipationsanregungen sowie Vernetzungen zu Oppositionellen nach Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, was sehr viel zur Formierung der Bürgerrechtsbewegung beitrug. All dies hatte enormen Einfluss auf uns. Die Rezeption verbotener Schriften war Teil des Widerstandes gegen das Regime und gegen die DDR.

Basil Kerski: Die Umbruchjahre 1989, 1990 und 1991 veränderte grundlegend die politische Landkarte Europas. Insbesondere für die alte Bundesrepublik erfolgte eine Zäsur, denn durch die Wiedervereinigung begann ein ganz neues Kapitel der Geschichte. War der Wiedervereinigungsprozess aus Ihrer Sicht ein Erfolg für beide Seiten? Welche Folgen hatte das Jahr 1989 für den europäischen Einheitsprozess?

Dietmar Nietan: Gerade an Jubiläen wie in diesem Jahr wird immer wieder deutlich, wie diejenigen, die unter der undemokratischen Herrschaft sowjetischer Prägung gelitten und diese zu Fall brachten, das Ende des Kommunismus viel realer erlebten als diejenigen, die wohl behütet und ökonomisch abgesichert in den freien Gesellschaften des Westens lebten. Die deutsche Wiedervereinigung hatte an sich etwas Paradoxes: Es war keine Vereinigung, sondern ein Beitritt des Verlierers in das Gebiet des Siegers, obwohl es eigentlich die Bürgerrechtler der DDR waren, die man als Sieger ansehen muss.

Viele Ideen der Bürgerrechtler, die ihr Leben für die Demokratie riskierten, wurden nach der Wiedervereinigung nicht weiter verfolgt. Schuld daran waren nicht nur die westdeutschen Politiker, die oft mit einer gewissen Arroganz auftraten, sondern auch die teils passive Haltung der ehemaligen DDR-Bürger selbst. Dem Durchschnittsbürger kann nicht verübelt werden, er habe die zügige Etablierung des Wohlstandes nach westdeutschem Vorbild einer politischen Struktur- und Systemdebatte vorgezogen. Viele Entscheidungen wurden schnell getroffen und wichtige Fragen – beispielsweise nach einer neuen deutschen Verfassung oder die Beibehaltung und Ausweitung gut funktionierender Einrichtungen der DDR auf Gesamtdeutschland – gingen im Rausch der Wiedervereinigung und Einführung der D-Mark unter.

Analog zur deutschen Wiedervereinigung konnte 2004 ein ähnliches Phänomen auf gesamteuropäischer Ebene beobachtet werden. Ich würde sagen, die gegenwärtige Legitimationskrise der EU hängt zum Teil mit den verpassten Chancen der großen Osterweiterung zusammen. Zu jener Zeit wurde es versäumt, die EU zu erneuern und aus den kulturellen Quellen Mittel- und Osteuropas zu schöpfen. Letztendlich gestaltete sich die Rollenverteilung ähnlich wie 1990 in Deutschland: Unsere armen Brüder und Schwestern aus dem Osten sollten ohne eigene Forderungen beitreten, sich den Bedingungen der EU anpassen und möglichst bequeme Mitglieder werden, ohne uns das Leben schwer zu machen und uns eigene Ideen aufzudrücken.

Die politischen Eliten im Westen führten sich gegenüber den mutigen östlichen Nachbarn wie Siegermächte auf und würdigten nicht gebührend deren Beitrag für die europäischen Grundwerte. Sie wurden nicht eingeladen, um von ihnen zu lernen, was man im Westen ändern könnte. Das führt obendrein dazu, dass wir innerhalb der EU nicht mit unseren Problemen umgehen können. Wo ist in der EU eine Institution, die von ihrer Wirkungskraft her der katholischen Kirche in Polen ähneln würde? Wo finden Menschen in der EU einen Zufluchtsort, gleich den evangelischen Kirchen in der DDR? Wo bleibt in der EU der Aufschrei, ein Mitgliedsstaat wandele sich Schritt für Schritt zu einem autoritären System um? Wir haben in der EU kaum Instrumente, um beispielsweise den letzten überzeugten Demokraten in Ungarn konkrete Unterstützung anzubieten. Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt, über den wir nach 25 Jahren jenseits aller nationalen Debatten reden müssen.

Basil Kerski: Die Wirtschaft in Ostdeutschland brach 1990 nach der Konfrontation mit der Marktwirtschaft sehr schnell zusammen. Wie wurde die Gesellschaft in Ostdeutschland durch diese Revolution geprägt?

Lutz Rathenow: Die Befreiung von der DDR war nicht nur mit der Hoffnung auf Wohlstand verbunden. Der Preis, den die Gesellschaft letztendlich in Kauf nehmen musste, war ihr Zerfall in ganz verschiedene soziale und politische Interessensgruppen. Zu den Jahrestagen des Mauerfalls und der Wiedervereinigung werden immer wieder Fragen gestellt, wie es sich den Ostdeutschen denn heute lebe, was vor 1989 besser, was schlechter war. Wie lebhaft solche Fragen immer noch diskutiert werden, kann zum Beispiel anhand der Leserbriefe in ostdeutschen Tageszeitungen nachverfolgt werden. Viele Ostdeutsche sind dieser Fragen müde, es ist schon sehr zermarternd, jedes Jahr aufs Neue von den positiven – insbesondere den materiellen – Folgen der Wiedervereinigung zu sprechen. Dies gleicht manchmal einer jährlich wiederkehrenden Aufforderung zur Danksagung ... Für die junge Generation, die in einer völligen Selbstverständlichkeit ihre neuen Möglichkeiten nutzt, sind solche Debatten zum Teil abstrakt. Das Leben vergeht dabei unterschiedlich schnell, es gibt einen Unterschied zwischen dem prächtigen Raum an Betätigungs- wie auch Lebensmöglichkeiten in Städten wie Dresden, Leipzig, Jena, Erfurt, aber ebenfalls in einigen kleinen Städten, und Räumen, wo die aktiven Menschen mangels Perspektiven weggezogen sind. Dort werden die Errungenschaften von 1989 nicht stark wahrgenommen.

Statt den Fokus der Debatten über das Jahr 1989 auf die politischen und wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung zu legen, sollten wir uns stärker bewusst machen, welche Errungenschaft die oppositionelle Bewegung in der DDR vollbracht hat. Diejenigen, die in jenen Tagen auf die Straßen gegangen sind, haben ihr Leben riskiert. Darüber hinaus kommt der friedliche Anspruch der Demonstranten manchmal viel zu kurz. Es hätte auch weniger friedlich zugehen können, denn Stasi und Polizei haben sich enorme Provokationen zuschulden kommen lassen. Dass die Revolution letztendlich friedlich verlief, war eine Leistung, der ein jahrelanger Prozess der Deeskalation vorausging. Man hatte gelernt, zivilgesellschaftliche Verhaltensformen einzuüben. Dieses historische Erbe muss in der heutigen Bundesrepublik erkannt und verinnerlicht werden. Es ist nämlich Teil unseres gemeinsamen mitteleuropäischen Erbes, das Ostdeutschland in das vereinte Europa als Mitgift eingebracht hat.

Basil Kerski: Von der Solidarität der mitteleuropäischen Demokraten blieb leider wenig übrig. Die kritischsten Stimmen zur Revolution auf dem Majdan, wo die Ukrainer auch für unsere Freiheit kämpften, kamen aus Prag, Bratislava und Budapest. Und diese stammten sowohl von Altkommunisten als auch zum Teil von den Protagonisten von 1989. Es entsteht der Eindruck, als ob wir hier mit einer unerwarteten Krise des europäischen Gedankens in Mitteleuropa zu tun hätten.

Mykola Rjabtschuk: Die Reaktion der Tschechen, Slowaken und Ungarn überraschte, denn ihre Länder erlebten die russische Besatzung und daher hätten sie umso mehr Verständnis für die Situation in der Ukraine aufbringen können. Von Sympathie oder Mitleid ist jedoch nichts zu hören … Die Reaktion der Ungarn kann man irgendwie verstehen, denn sie haben ihr Trianon-Trauma immer noch nicht überwunden, sie vertreten stets revanchistische Positionen und glauben daran, ein großer Teil der Ungarn wurde von ihrem Land getrennt. Sie projizieren ihr Trianon auf Russland, das ein ähnliches Trauma hat und sich ebenfalls territorial zerstückelt fühlt.

Die Reaktion der Tschechen und Slowaken kann ich dagegen nicht nachvollziehen. Vielleicht ist es ein Nachklang des Essays von Milan Kundera von 1984 [„Der entführte Westen oder: Die Tragödie Mitteleuropas“, Anm. d. Red.]. Der Text war einst sehr wichtig für die Einigung und Mobilisierung der Nationen Mitteleuropas, ihm lag aber auch ein ausgliedernder Aspekt zugrunde: Neben der Betonung der europäischen Traditionen in diesem Teil des Kontinents, schloss er andere, weiter östlich gelegene Nationen davon aus.

Alle übrigen Staaten reagierten hingegen recht vorhersehbar. Die Spaltung innerhalb Europas wurde sichtbar, was ein konzeptuelles Problem widerspiegelt. Es besteht oftmals ein Konflikt zwischen Werten und Interessen, diesen kann man nicht immer überwinden. Werte und politische Interessen gehen nicht immer Hand in Hand. Man muss immer eine schwierige moralische Wahl treffen. Dabei sollte eines bedacht werden: Wenn wir Werte verteidigen, sind wir auch imstande, unsere Interessen entsprechend anzupassen. Wenn wir unsere Werte verraten, verlieren wir unsere Interessen.

Wenn ich im Westen bin, so kritisiere ich ihn gerne für seine Haltung gegenüber der Ukraine. In der Ukraine verteidige ich den Westen hingegen und verweise darauf, auch wir Ukrainer interessieren uns nicht immer für das Schicksal anderer, zum Beispiel für Tibet, das genauso besetzt wird. Kaum jemand in der Ukraine begab sich vor die weißrussische Botschaft, als Lukaschenka Demonstrationen auseinandertrieb und Menschen ins Gefängnis steckte.

Ich schätze den Westen für das, was er getan hat. Die Zukunft Europas wird derzeit in der Ukraine entschieden und wenn wir die Gefahren nicht verstehen, so können die Folgen für uns fatal sein. Diesen Fehler begangen wir schon einmal, als wir 2008 die Bedrohung nicht wahrnehmen wollten und zusahen, wie ein Teil Georgiens von Russland besetzt wurde. Es gab keine Reaktionen oder Sanktionen, was Wladimir Putin zur Fortführung solcher Vorgehensweisen anspornte. Zu dieser Zeit erschienen bereits erste Publikationen, in denen vor einem ähnlichen Szenario für die Krim gewarnt wurde. Wir reagierten darauf nicht und unterschätzten Russland. Putin erhielt somit eine Blankovollmacht. Sollte es ihm gelingen, einen Korridor vom Donbas bis nach Moldawien zu erobern, so würde der nächste Korridor von St. Petersburg bis nach Kaliningrad verlaufen.

Zbigniew Janas: Als man anfing, auf die Menschen des Majdan zu schießen, sagte ich im polnischen Fernsehen, wie gerne wir doch manchmal mit der Europäischen Union unzufrieden sind, ihre Vorgaben kritisieren und ihr diverse Vorwürfe machen. Als auf dem Majdan Blut floss, konnten wir das erste Mal Menschen sehen, die für die Verteidigung Europas, für das Streben hin zur EU ihr Leben opferten. Eine Nation außerhalb der Grenzen der EU führte uns, die wir nie mit solch einer dramatischen Situation konfrontiert wurden, vor Augen, dass man für Europa sterben kann. Ich bin der Ansicht, der Willensakt des ukrainischen Volkes hat den Wert untermauert, der die Idee der EU ausmacht. Gerade die Länder, die unter glücklicheren politischen Umständen der Union beitreten konnten, sollten anhand dieser Perspektive auf die Ukraine blicken und sich unserer Pflicht gegenüber den östlichen Nachbarn bewusst werden.

Die Staaten Mitteleuropas sind viele Jahre einen gemeinsamen Weg gegangen, seit der ersten EU-Osterweiterung entdecken wir allerdings Unterschiede zwischen den politischen Kulturen. Bei der Gründung der Visegrád-Gruppe 1991 teilten wir noch viele gemeinsame Werte und hatten ein gemeinsames Ziel: die Integration unserer Staaten in die westlichen Strukturen. Und dieser Prozess ist uns erfolgreich gelungen. Nachdem wir diese grundlegenden Ziele erreicht haben, spüren wir, wie uns der gemeinsame Nenner abhandenkommt. Wir müssen uns die Frage stellen, wo wir heute stehen. Derzeit befinden wir uns in einer schwierigen Lage und die Gruppe braucht dringend Impulse seitens der Zivilgesellschaft. Mich besorgt die Entwicklung in Ungarn. Die Einstellung der politischen Elite Ungarns gegenüber der Ukraine empfinde ich als bedrückend. Ich bin allerdings der Auffassung, wenn wir nur pessimistisch bleiben, so werden wir nie einen guten Weg einschlagen.

Basil Kerski: Die europäische Ukraine-Debatte erinnert zum Teil an die frühen 1980er Jahre und die Reaktionen des Westens auf die Solidarność. Die Solidarność hatte vor allen Dingen durch ihren friedlichen Charakter und durch die Losung „Für eure und unsere Freiheit“ fasziniert und die Europäer verbunden. Gleichzeitig gab es eine ähnliche Debatte wie heute, in der nach dem Gleichgewicht der Mächte und politischer Blöcke gefragt wurde. Es gab starke Tendenzen, die geopolitische Ordnung nicht ins Wanken zu bringen. Ist Europa heute in der Frage nach der Zukunft der Ukraine und unseren Beziehungen zu Russland in erster Linie um geopolitische Stabilität bestrebt?

Dietmar Nietan: Meines Erachtens hatten wir jahrelang zu wenig Vertrauen in die Soft Power der EU und entwickelten die dazu vorhandenen Instrumente nicht genug. Ich hätte es begrüßt, wenn alle Mitgliedsstaaten der EU in das „European Endowment for Democracy“, eine europäische Stiftung zur Unterstützung von demokratischen Bewegungen außerhalb der EU, die auf Initiative Polens gegründet wurde, mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet hätten. Diese Stiftung kann, anders als beispielsweise die EU-Kommission, mit einer anderen Flexibilität und in einer anderen Dimension Oppositionelle außerhalb der EU unterstützen. Die finanzielle Beteiligung Deutschlands ist in dieser Hinsicht noch weiter ausbaufähig.

Die Reaktionen auf Russlands aggressive Politik sind innerhalb der EU unterschiedlich. Dabei konnten wir in den vergangenen Monaten Haltungen beobachten, die sowohl in das eine wie auch andere Extrem abrutschten: von geforderten Waffenlieferungen in die Ukraine bis hin zur Akzeptanz der Politik Wladimir Putins. Wir müssen alle aufpassen, damit diese Polarisierung der öffentlichen Meinung nicht zur Spaltung unserer Gemeinschaft führt.

Die Anklage, der Westen reagiere zu mild, impliziert ein Zeichen der Schwäche. Meiner Ansicht nach muss jedoch kein Widerspruch zwischen einer sachlichen Rhetorik und Standhaftigkeit bei der Verhandlung von Kernanliegen bestehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass diejenigen, die eben solch eine Linie verfolgen, medial kaum wahrgenommen werden. Ich schließe mich jenen an, die unter schwierigen Vorzeichen den Dialog suchen, zugleich aber internationale Rechtsverpflichtungen und unsere europäischen Werte kompromisslos verteidigen. Auf diese Weise kann mehr erreicht werden, als durch radikale Vorschläge, die manch ein Publizist in seinem wohlbehüteten Heimatland formuliert. Zu fordern, der Westen müsse Waffen an die Ukraine liefern, ist leicht gesagt. Eine Antwort darauf, wie man anschließend Russland wieder an den Verhandlungstisch bekommen sollte, ist da schon wesentlich schwieriger.

Basil Kerski: Die vertragliche Absicherung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine erfolgte 1994 in Budapest im Rahmen der KSZE. Die Ukraine verzichtete in einem Vertrag mit Russland, den USA und Großbritannien auf ihren Atomwaffenbestand. Im Gegenzug wurden ihre Grenzen garantiert. Dieser Vertrag, der die Wiedergeburt des unabhängigen ukrainischen Staates absichern sollte, wird heute durch die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine von den politischen Eliten um Putin infrage gestellt. Tragen die westlichen Demokratien durch ihre Ostpolitik zu dieser gefährlichen Entwicklung in der Ukraine bei?

Mykola Rjabtschuk: Die Ukraine tauchte auf der mentalen europäischen Landkarte des durchschnittlichen Europäers erst während der orangenen Revolution auf, konnte aber ihren Platz dort nicht lange halten. Damals hatte die Ukraine die Chance, von Europa in ihren Orbit gezogen zu werden, so wie die Balkanstaaten. Die Ukraine fiel jedoch aus diesem Orbit heraus.

Die Reaktionen des Westens auf die Ereignisse in der Ukraine sind wahrlich unterschiedlich, manchmal nachvollziehbar, oft ärgerlich. Die Empathie der öffentlichen Meinung des Westens für die Gesellschaftsbewegungen von 1989–1991 fällt im Falle der ukrainischen Revolution eher kühl aus und analoge Taten zu früher werden auf ganz andere Weise interpretiert. Jüngst las ich in der westlichen Presse einen Kommentar über den Abriss des Lenin-Denkmals in Charkiw. Es handelte sich um das größte Lenin-Denkmal der Ukraine von symbolischer Bedeutung, denn es war eines der ersten, die aufgestellt wurden. Er wurde von der Bevölkerung abgerissen, es war eine Bewegung „von unten“. Wie interpretierte die internationale Presse diesen Akt? In der angelsächsischen Presse wurde berichtet, ukrainische Nationalisten hätten das Lenin-Denkmal zerstört und somit ihre antirussische Haltung zum Ausdruck gebracht. Lenin wurde einst in ganz Mittel- und Osteuropa gestürzt und man sah dies als eine nationale Bewegung, eine demokratische Geste und als Willen der Zivilgesellschaft an. Im Falle der Ukraine spricht man von einer nationalistischen, nicht demokratischen Bewegung. Weshalb wird ein und der gleiche Akt als etwas anderes angesehen?

Europa weiter östlich wird nicht ganz als Teil Westeuropas angesehen, deshalb ist die Reaktion des Westens uneinheitlich und weniger empathisch als vor 25 Jahren. Ich möchte dennoch betonen, zwischen den samtenen Revolutionen in Mitteleuropa 1989 und der ukrainischen Euromajdan-Revolution bestehe kein Unterschied.

Diese Debatte fand am 8. November 2014 im Rahmen der 23. Jahrestagung der Deutsch-Polnischen Gesellschaften in Dresden statt.

 

  • Basil Kerski, Chefredakteur des Magazins DIALOG, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig.
  • Zbigniew Janas, Politiker, ehemaliger antikommunistischer Dissident, 1989–2001 Abgeordneter des Sejm, 1990–1991 Direktor des Mittel- und Osteuropa-Forums der Stefan Batory-Stiftung.
  • Dietmar Nietan, SPD-Politiker, seit 1998 Mitglied des Bundestages, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e. V.
  • Lutz Rathenow, Dichter und Schriftsteller, DDR-Oppositioneller, seit 2011 Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.
  • Mykola Rjabtschuk, Publizist, Schriftsteller, Mitglied der Redaktion der Kiewer Monatszeitschrift „Krytyka“, Mitarbeiter des Zentrums für europäische Studien der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie.
Die Ukraine zwischen Hoffnung und Traurigkeit
Erschienen in: DIALOG Nr. 109

Eine Reise nach Lemberg, Czernowitz, Drohobytsch und Iwano-Frankiwsk

Das europäische Treiben in der Westukraine verdeckt nur vordergründig die Allgegenwart des Krieges im Osten. Die russische Aggression hat eine neue Welle des Patriotismus ausgelöst. Viele Bürger des Landes sind enttäuscht über die mangelnde Hilfe des Westens. Eine Nation sucht ihre Zukunft.

Krieg? Wo? Welcher Krieg? Sitzt man in der Herbstsonne in einem der Straßencafés auf dem Marktplatz in der Altstadt von Lemberg/L`viv/Lwów, dann kann man diese Frage durchaus stellen. Denn auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass im Osten der Ukraine immer noch gekämpft wird – trotz Waffenstillstand. Das Leben pulsiert, die ganze Jugend Lembergs scheint in der Altstadt unterwegs zu sein. Auch einige ältere Herrschaften sind darunter, sowie Touristen, vor allem aus Polen. Zwei in die Jahre gekommene Rockfans spielen die Songs von Pink Floyd und Deep Purple mit unglaublicher Perfektion und haben großen Spaß dabei. Ein Stück weiter steht ein alter Mann mit seiner Violine, der eher an den „Fiedler auf dem Dach“ aus dem Musical „Anatevka“ erinnert. Ab und zu unterbricht das Geklingel der legendären Straßenbahn die demonstrative Gelassenheit. Die Szene gleicht dem Treiben auf den Marktplätzen in Krakau, Prag, Siena und Granada.

Nicht anders in Iwano-Frankiwsk, das 1662 von dem polnischen Adligen Andrzej Potocki als Stanisławów gegründet worden war und später in österreichisch-ungarischen Zeiten Stanislau hieß. An den Abenden wird die dortige Straße der Unabhängigkeit zur Flaniermeile. Junge Paare schieben ihre Kinderwagen immer wieder rauf und runter. Auch hier reicht die Straßenmusik von Heavy Metal bis zum Musical, die ganze Szene hat etwas Europäisches.

In Czernowitz/Chernivtsi/Cernăuţi erinnert das Geschehen auf dem Campus der Jurij-Fedkowytsch-Universität an Hochschulen überall in Europa oder im amerikanischen Harvard. Smartphones flimmern, Musik aus den Lautsprechern im angrenzenden Park klingt herüber. Außer Ukrainisch schwirren auch andere Sprachen durch die Luft. Czernowitz war schon immer polyglott, besonders bis zum Zweiten Weltkrieg. Für die Studenten hat es keinerlei Bedeutung, dass das gewaltige Universitätsgebäude im Stil des Eklektizismus früher einmal die Residenz der orthodoxen Metropoliten der Bukowina und Dalmatiens war. Und in der Altstadt von Czernowitz ist es ohnehin ein Leichtes, „Europa“ zu entdecken, etwa in der Kobyljans`ka-Straße, der früheren Herrengasse. Die in der Stadt lebenden Polen, Rumänen und Deutsche unterhalten eigene Kulturzentren, ein Literaturhaus ist dem berühmten Lyriker Paul Celan gewidmet, der hier bis 1942 zu Hause war, bevor er in rumänische und deutsche Arbeitslager verschleppt wurde.

Doch bei genauerem Hinsehen entdeckt man die Allgegenwart des Krieges, der im Osten der Ukraine als frozen conflict weiter schwellt. Kaum ein Café oder ein Restaurant in Lemberg, (den ganzen Artikel lesen)

Wladimir Kaminer - „Das waren wir nicht!“
Erschienen in: DIALOG Nr. 101

Zur politischen Kultur Russlands. Beobachtungen eines deutsch-russischen Satirikers

Der fehlende Glaube daran, etwas verändern zu können, hat sich in Russland sehr breit gemacht. Es ist ganz egal, wer nach Putin kommt, es wird nicht besser. Es gibt tatsächlich Menschen, die ich auch persönlich kenne, die um sieben Uhr früh aufgestanden und aus dem Haus gegangen sind, um Putin zu wählen, obwohl sie ihn nicht mögen. Es hat keinen Sinn, ihn zu wählen oder nicht zu wählen, weil er diese Stimmen sowieso nicht braucht, es ist alles eine abgekartete Sache. Und trotzdem gehen die Menschen ihn wählen. Zur Erklärung ihres Verhaltens sagen sie, sie wollen zum Beispiel die feindlichen Aktivitäten Amerikas verhindern. Das ist ein Phänomen, eine Geste, die aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit heraus kommt. Nehmen wir das russische Fernsehen – es ist ein sehr starkes Mittel, um Menschen zu manipulieren und zu hypnotisieren. Das russische Fernsehen ist sehr brutal. Dort wird jeden Tag gezeigt, wie schlimm die Russen seien: Ein besoffener Fahrer fährt in eine Kindergartengruppe hinein und alle Kinder sind tot – es gibt hunderte, tausende solcher Geschichten. Und es wird immer wieder gesagt, wie dumm das Volk sei. Und dann gibt es einen Putin, der behauptet: „Wir sind für die Demokratie noch nicht reif genug. Denn wir wissen es, wir haben es alle im Fernsehen gesehen, wie die Menschen wirklich sind. Wenn man sie nur lässt, werden sie alle einander umbringen, denn das sind schlimme Menschen, Tiere. Diese 200 Millionen Russen können nicht selbstständig entscheiden, deshalb brauchen sie mich, weil ich der Einzige bin, der weiß, wie man Fehler der Vergangenheit wieder wettmachen kann. Ich habe selbst diese Fehler gemacht, also wer sonst soll es besser als ich wissen, wie man sie wiedergutmachen kann.“

Diese Logik funktioniert, obwohl es eine verdrehte, idiotische Logik ist. Die Menschen denken sich: „Okay, ich bin vielleicht mehr oder weniger normal, aber meine Nachbarn sind tatsächlich doof.“ Alles hat damit zu tun, dass die Russen aus ihrer Geschichte nicht gelernt haben. Sie haben die ganze Zeit – anstatt sich ernst, wie die Deutschen bei ihrer Vergangenheitsbewältigung, mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen – die Augen zugemacht wie kleine Kinder, nach dem Motto: „Gut, da war irgendwas, aber sollen wir so pingelig sein und fragen: ‚Wer, wo, beim KGB oder nicht beim KGB’, darüber wollen wir gar nicht reden. Wir tun so, als wäre nichts gewesen und fangen wieder von vorne an.“ Man kann die Geschichte nicht neu schreiben, weil das immer noch die gleichen Menschen sind. Und wenn sie beim KGB waren, dann (den ganzen Artikel lesen)